Ein interessanter Bericht von 1992.
Bosnien
Feinde Gottes
Die bosnischen Moslems hoffen auf Hilfe der islamischen Welt - Glaubenskrieg in Europa?
Nur noch Waffen und Soldaten könnten den Islam in Bosnien retten, schlug die saudiarabische Zeitung El-Jaum Alarm. Ein Religionsgelehrter in Mekka verkündete eine "Fatwa", ein für Gläubige verbindliches religiöses Rechtsgutachten, wonach die Moslems der ganzen Welt zur Hilfe verpflichtet seien. Iranische Ajatollahs predigen schon für einen Heiligen Krieg in den Bergen Bosniens.
Von einer islamischen Armee, die dem Schlachten ein Ende bereiten müsse, spricht der Teheraner Außenminister Ali Akbar Welajati. Die Ölscheichs griffen in die Kassen und spendeten 30 Millionen Dollar, Saudi-König Fahd gab 10 Millionen aus seinem Privatvermögen. Pakistan half mit 20 Millionen und will 80 000 Tonnen Öl liefern.
Sogar einen Märtyrer gibt es schon, einen iranischen Studenten, der in Sarajevo starb. Eine Milliarde Moslems _(* Am Freitag vergangener Woche. ) auf der Welt sehen mit steigender Erbitterung zwei Millionen Glaubensbrüder auf dem Balkan als Opfer eines neuen christlichen Kreuzzugs: "Ihr moslemischen Brüder in Bosnien-Herzegowina werdet verfolgt, ermordet durch die Feinde Gottes, die Serben und ihre Helfer", rief der Saudi-Scheich Abd el-Asis die Gläubigen auf, all ihre Macht für die Bedrängten einzusetzen.
Das Echo hallt von Ägypten bis Bangladesch und Indonesien, wo ausgerechnet Rest-Jugoslawien dem Gipfel der Blockfreien im nächsten Monat präsidieren soll - unzumutbar für Moslems. Die türkische Zeitung Milliyet leitartikelte: "Europa, schäme dich!" und warf dem Westen vor, den Völkermord in Bosnien zu ignorieren, weil dort ja nur Moslems betroffen seien. Die Regierung in Ankara schlug bereits vor, die serbischen Stellungen um Sarajevo "selektiv zu bombardieren".
Die Wut wächst in der islamischen Welt über das tatenlose Zusehen der christlichen Völker. Islamische Fundamentalisten wittern eine späte Rache des Abendlandes für die Niederlage gegen die Türken auf dem Amselfeld vor 600 Jahren. Als ob der mörderische Völkerkrieg auf dem Balkan nicht schon grauenhaft genug wäre, könnte er sich so noch in eine neue Dimension steigern - einen Glaubenskrieg zwischen Christentum und Islam.
Keiner jener westlichen Politiker, die sich bislang ebenso stümperhaft wie erfolglos um eine Eindämmung des Mordens im jugoslawischen Schlachthaus mühten, hat diese neue Front bisher ernst genommen. Die bosnischen Moslems - sie galten allenfalls als orientalische Folklore für Touristen, die sich von der Adriaküste ins Hinterland verirrten, malerische Minarette fotografierten oder mit Kupferschmieden um Kaffeekannen feilschten.
Selbst in Jugoslawien gab es den Begriff einer moslemischen Nationalität erst seit Ende der sechziger Jahre, als Tito ihn einführte, um serbische und kroatische Nationalisten zu ducken, die beide das bosnische Volk für sich vereinnahmten. Die meisten Bewohner der Republik fühlten sich bis dahin unabhängig von nationaler oder religiöser Herkunft vor allem als Bosnier und lebten, ob Moslems, Orthodoxe oder Katholiken, einträchtig zusammen. Vor allem die heute so bitter umkämpfte Hauptstadt Sarajevo galt als traditioneller Hort der Toleranz.
Mischehen waren weit häufiger als im sonstigen Jugoslawien; bei den Moslems erreichte ihr Anteil zehn Prozent, undenkbar in einer anderen islamischen Gesellschaft. Seit 1950 gab es ein Schleierverbot für Moslemfrauen. Unter kommunistischer Herrschaft hatte der Islam weitgehend seinen Einfluß auf das öffentliche Leben verloren.
Politisch aktive Bosnier waren in der Mehrheit atheistisch, die Jugend entzog sich religiösen Traditionen. Ein Teil der über tausend Moscheen im Lande verfiel, der Rest war so schlecht besucht, daß schließlich auch die Frauen zum Freitagsgebet gerufen wurden, um die Bethäuser wieder zu füllen. Gastarbeiter aus Bosnien fielen in Deutschland kaum als Islamgläubige auf, im Gegensatz zu Türken.
So verblaßte zumindest nach außen hin die letzte bodenständige islamische Tradition auf europäischem Festland, die jahrhundertelang den Balkan mitgeprägt hatte. Denn bosnische Moslems hatten zur Zeit der Türkenherrschaft Macht und Einfluß, die weit über ihre Heimatberge hinausreichten.
Der Islam hatte schon lange vor dem Türkensturm in Bosnien Fuß gefaßt. Türkische, persische und arabische Wanderstämme durchstreiften zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert die Balkan- und unteren Donaugebiete. Sie gründeten Niederlassungen und Sekten; noch heute erinnern Ortsnamen an Sarazenen, Ismaeliten oder Kalisen, Islamgemeinden, die lebhafte Kontakte zu den Mauren in Spanien pflegten.
Auch die bosnischen Christen gingen eigene Wege. Die sogenannte Bogomilen-Sekte, eine aus Bulgarien stammende Glaubensrichtung, aus christlichen, mosaischen, persischen und buddhistischen Elementen zusammengesetzt, wurde ab dem 13. Jahrhundert zur offiziellen "Bosnischen Kirche". Katholiken wie Orthodoxe verfluchten sie als Ketzerei. Ungarn-Könige rüsteten Kreuzzüge gegen die Bogomilen aus.
Als im 15. Jahrhundert die Türken den Balkan überrannten, konvertierten die von ihren christlichen Brüdern verfolgten Bosnier in Massen zum Islam. Der Sultan belohnte die neugewonnenen Glaubensbrüder mit einflußreichen Posten. Bosnier stellten nicht weniger als 20 Großwesire in Istanbul. Sie dienten der Hohen Pforte als Krieger, Baumeister, Gelehrte und Dichter, die über das ganze Reich und dessen Grenzen hinaus ausschwärmten.
Bosnische Statthalter verwalteten das besetzte Ungarn für den Sultan, bosnische Söldner drangen bis in den Sudan vor und gründeten dort eigene Fürstentümer. Bosnische Stiftungen sorgten für die Armen von Mekka. Ritter aus Bosnien kämpften für die Pforte und den Islam vor Wien, im Kaukasus, kamen bis in den Jemen und nach Afghanistan. Noch 1947 fochten 40 bosnische Söldner auf seiten der Araber gegen die Israelis in den Mauern Jerusalems.
Bosnische Landsknechte verdingten sich auch bei fremden Fürsten. Lanzenreiter aus Bosnien standen im Sold Friedrichs des Großen sowie polnischer und niederländischer Herren. Als die Habsburger das Erbe der Türken auf dem Balkan antraten, stiegen Bosniaken-Regimenter zu Eliteeinheiten der altösterreichischen Armee auf.
Sogar Hitler dienten moslemische Söldner aus Bosnien in der SS-Division Handschar; mit Krummsäbel und dem Nazi-Adler auf türkischem Fes drangsalierten sie eigene Landsleute, kämpften aber auch gegen die Russen.
Die heutige Republik Bosnien hatte zur Zeit der Pax ottomana im 16. und 17. Jahrhundert als autonome Provinz des Türkischen Weltreiches eine Blütezeit erlebt. Zahllose Moscheen, Derwisch-Klöster, Medressen (Koranschulen) und Bibliotheken entstanden, prächtige türkische Bäder schmückten die Städte, gut ausgebaute Verkehrswege durchzogen das gebirgige Land.
Vor allem die steinernen Brücken über reißende Flüsse und tiefe Schluchten wurden weithin gerühmt, etwa jene über die Neretva in Mostar, die als "steingewordener Halbmond über dem Wasser" besungen wurde, oder die "Brücke über die Drina" in Visegrad, deren Schilderung Ivo Andric zum Literaturnobelpreis verhalf.
Nachdem die Habsburger Herren der Bosnier geworden waren, wanderten Hunderttausende Moslems in die Türkei ab - eine Emigration, die auch zur Zeit des südslawischen Königreichs nach dem Ersten Weltkrieg und bis in die Tito-Ära anhielt. Folge: In der Türkei leben heute über 400 000 Bürger bosnischer Herkunft.
Während des Zweiten Weltkriegs waren 180 000 bosnische Moslems Opfer serbischer Tschetniks oder der Partisanen geworden; gemessen an der Bevölkerung entrichteten sie den höchsten Blutzoll aller jugoslawischen Völker. Über 700 Moscheen wurden zerstört. Noch nach dem Krieg wüteten die Titoisten gegen bekennende Moslems: Dutzende moslemische Intellektuelle wurden als Verräter hingerichtet, Islamschulen und moslemische Zeitungen verboten, aktive Religionsausübung wurde lange geächtet. Der heutige Präsident Alija Izetbegovic mußte noch 1983 wegen angeblicher "islamischer Verschwörung" für fünf Jahre ins Gefängnis.
Als Tito den Moslems eine eigene Nationalität zugestand - nicht zuletzt auch als Preis für billiges libysches Öl -, zog er sich damit den Zorn sowohl der Serben zu, die in den Bosniaken konvertierte Verräter vom eigenen Stamm sahen, als auch den der Kroaten, denen die Bosnier als verirrte Urkroaten gelten. Noch heute sind sich beide Kontrahenten letztlich einig, daß Bosnien-Herzegowina zwischen Kroatien und Serbien aufzuteilen sei.
Serben-Extremist Vojislav Seselj tat die Moslems schon Anfang der achtziger Jahre als "erfundene Nation" ab und büßte seine Anschlußpropaganda damals mit Kerkerjahren. Und Kroatiens Präsident Franjo Tudjman sprach sich nach seiner Wiederwahl vor zwei Wochen gegen einen "islamischen Staat im Herzen Europas" aus.
In Wahrheit haben Serben wie Kroaten dort, wo sie kraft ihrer Waffen herrschen, Bosnien längst zerteilt. Die Moslems aber haben im Gegensatz zu Kroaten und Serben keinerlei Heimstätte außerhalb ihrer Republik. Sie können nicht bei verwandten Nachbarn Zuflucht suchen. Wenn sie aus Bosnien vertrieben werden, enden sie im Nichts.
Deshalb suchen die Kämpfer mit dem grünen Barett, verlassen von Europa und der Uno, nun Hilfe bei islamischen Brüdern. Die aber könnten dann nicht nur den Moslems aus Bosnien beispringen, sondern auch jenen im serbischen Sandzak, im Kosovo und in Mazedonien, den potentiellen Kriegsschauplätzen von morgen im auseinandergeplatzten Jugoslawien, wo insgesamt über fünf Millionen Moslems leben.
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13689842.html