Es gab schon vor Sultan Selim I. gelegentlich osmanische Sultane, die sich Kalifen schimpften.
Es gab gleichzeitig mit den Osmanen andere Herrscher der islamischen Welt, die gelegentlich den Titel führten.
Die Verleihung der Schlüssel von Mekka und Medina verliehen nicht den Titel Kalif, sondern sinngemäß Beschützer der Heiligen Stätten.
Die angebliche Übergabe der Kalifenwürde durch einen abbasidischen Schattenkalifen auf Selim I. 1517 in einer Zeremonie in Kairo, ist eine
ausgedachte Geschichte des 18. Jh. von Mouradgea D'Ohsson und seitdem in unzähligen Geschichtsbüchern bis ins letzte Jahrhundert hinein tradiert worden.
Ich glaube, in diesem Dokument steht näheres:
http://www.oslo2000.uio.no/program/p...1b-findley.pdf
Es gab unter Selims Sohn Süleyman dem Prächtigen bei seinem Scheich ül-Islam (Oberster islam. Gelehrter) bzw. anderen Gelehrten Überlegungen 1545 (Süleyman regierte schon seit 1520), den Kalifentitel mit theologischem Leben zu erfüllen. Dieses Konzept starb mit ihren Befürwortern 1574.
Danach weiß ich nicht, ob der Titel nochmal irgendwo auf irgendwelchen Dokumenten mal auftauchte, die osmanischen Sultane hatten aber seitdem sie weltliches Recht schöpften (durch Mehmed II. und Süleyman I.), neben dem bestehenden islamischen Recht und damit letztlich so religiöse oder säkulare Herrscher wie ihre christlichen Nachbarn waren (sie unterstanden denn auch (theoretisch) dem Scheich ül-Islam, sollten sie islamisches Recht brechen) offensichtlich kein großes Interesse daran, diesen Titel mit Stolz auszuleben, oder ihn zu gebrauchen.
Siehe auch Klaus Kreiser: Der osm. Staat:
Der osmanische Staat 1300-1922 - Google Bücher
S. 27.
Der Titel wurde erstmalig in der osmanischen Geschichte dann aus der Versenkung gehoben, als die Osmanen sahen, was die Zarin mit ihrem Titel so alles machen konnte, nämlich in andere Reiche hinein Einfluss versuchen auszuüben.
Dieses war erst Ende des 18. Jh. (Frieden von Kücük Kaynarca), als muslimisches Gebiet nach Jahrhunderten unter russische Herrschaft geriet, und der Sultan sich zum Kalifen und Beschützer seiner krim-tatarischen Schäfchen erhob. Vielleicht wurde dadurch die Inspiration für die Legende durch D'Ohsson geboren.
Von da ab erst, kann man wirklich von einem osmanischen Sultanat
und Kalifat sprechen, wobei das Kalifentum besonders erst im Laufe des 19. Jh. eine inhaltliche Aufwertung und Renaissance erfuhr, angesichts der zunehmenden Defensive des OR kein Wunder.
Da strickten dann auch die Osmanen kräftig an der Legende der Wirkkraft ihres Kalifentitels dergestallt, dass im 1. WK das britische Empire ernsthafte Bedenken vor dem osm. Bluff hatten, dass ihr Kronjuwel Indien evtl. dem osm. Aufrufen zum Widerstand
massiv Folge leisten könnte. Und somit Truppen band.
Heute findet sich im Netz, z.B. bei vielen Muslimen, auch Nichttürken, und bei nostalgischen türkischen "populärwissenschaftlichen" Autoren manchmal eine Rückprojektion der letzten 150 Jahre Kalifentum auf die vorigen 250 Jahre statt, ohne je einen Beleg zu liefern, wo der Titel getragen wurde,
ob der Titel getragen wurde, ob er überhaupt jemals vor Ende des 18. Jh. in der riesigen Korrespondenz aktiv genutzt wurde... usw.
Da ist vielmehr der Wunsch der Verklärung, der Wunsch der jahrhundertelangen ununterbrochenen unwidersprochenen Tradition der Vater des Gedankens.
Jedenfalls war der ehrwürdige mongolisch-türkische Titel des Han/Khan und des persischen Schah ihnen viel wichtiger, so dass sie auf den "Unterschriftsiegeln" - Tuğra - nicht fehlten. Nur der letzte Sultan, der nur noch Kalif war, der benutzte dann erstmalig den Titel Kalif in seiner Tuğra.