Berisha: "Keine große Liebe mehr für Erweiterung"
Ministerpräsident Sali Berisha lobt im STANDARD-Interview die wirtschaftlichen Fortschritte in seinem Land
Mit ihm sprach Adelheid Wölfl in Tirana.
STANDARD: Man kann den Skanderbeg-Platz hier in Tirana kaum überqueren, so viel wird gebaut. Ganz Albanien ist eine Baustelle. Spiegelt dies Fortschritt wider oder eher politische Lähmung des Landes, weil die Opposition sich der politischen Teilhabe verweigert?
Berisha: Das Land ist fast zur Gänze im Neuaufbau. In den vergangenen vier Jahren haben wir mehr als 6000 Kilometer Straße gebaut. Aber wir müssen noch weitere 7000 Kilometer Straße bauen. Letztes Jahr hatten wir das höchste Wirtschaftswachstum in Europa mit 3,5 Prozent, nächstes Jahr wird es noch höher sein. Wir haben die geringste Steuerlast und gemessen am Bruttoinlandsprodukt die größten Investitionen.
STANDARD: Das Land ist aber seit Juni 2009 durch den Machtkampf zwischen Opposition und Regierung gelähmt. Wichtige Gesetze konnten nicht beschlossen werden. Geht das im Herbst so weiter?
Berisha: Albanien ist nicht paralysiert. Das Parlament hat in der Zeit achtmal mehr Gesetze, Dekrete und Entscheidungen getroffen. Aber die Opposition war sechs Monate nicht im Parlament, später war sie im Parlament, hat aber nicht mitgearbeitet, dann hat sie mitgearbeitet, aber nicht abgestimmt. Und manche Gesetze, die eine Drei-Fünftel-Mehrheit brauchen, konnten nicht verabschiedet werden.
STANDARD: Die EU-Kommission kritisiert die fehlende Dialogkultur in Albanien. Ist das wirklich ein kulturelles Problem?
Berisha: Das Land ist in den letzten zwei, drei Jahren durch einen Reformprozess gegangen, der wahrscheinlich tiefer war als in irgendeinem anderen Land. Es gab eine Verfassungsreform, das Wahlsystem wurde geändert und das Gesetz für die Generalstaatsanwaltschaft. Ich habe mit Edi Rama (der sozialdemokratische Oppositionsführer, Anm.) in der Vergangenheit die größten Reformen durchgeführt. Das ist also keine Frage des Dialogs. Wir sind bereit zum Dialog. Aber Herr Rama hat die Wahlen nicht anerkannt. Und dann hat er das Parlament nicht anerkannt und eine Neuauszählung gefordert. Ich habe nichts dagegen, aber das ist eine Gerichtsentscheidung.
STANDARD: Die EU-Kommission kritisiert fehlende Transparenz in der Verwaltung Albaniens und fehlende Unabhängigkeit der Gerichte.
Berisha: Die Unabhängigkeit der Justiz ist ein Prozess. Wenn man die Entscheidungen der Justiz gegen die Regierung zählt, sieht man, dass sie unabhängig ist.
STANDARD: Wenn es keine Basis für die Kritik der EU-Kommission gibt, ist ihr Urteil überhaupt fair?
Berisha: Beinahe. Deren Berichte sind sehr gut. Aber man kann nicht sagen, dass jedes Wort auf dem richtigen Platz ist. Wenn man sagt, dass die Korruption eine ernsthafte Angelegenheit ist, stimme ich mit erhobener Stimme zu, abgesehen von dem guten Fortschritt, den wir in diesem Bereich erzielt haben. Es gibt Korruption, aber es ist positiv, dass der Kampf gegen die Korruption erfolgreich ist. Wenn man nachschaut, so gibt es in Albanien weniger Schwerverbrechen als im EU-Durchschnitt.
STANDARD: Manche EU-Länder sind skeptisch gegenüber der Erweiterung eingestellt.
Berisha: Es gibt keine große Liebe mehr für die Erweiterung, aber was den Westbalkan betrifft, gibt es zwar eine Zögerlichkeit, aber die ist nicht groß. Am Ende gibt es ja eine transparente Beurteilung. Nehmen wir etwa die Visa-Liberalisierung. Ich bitte niemanden um etwas. Ich habe zu Kanzler Werner Faymann in Salzburg gesagt, dass wir nur einen Prozess brauchen, der auf der Beurteilung unserer Performance basiert.
STANDARD: Wann erwarten Sie eine Reaktion auf das EU-Beitrittsansuchen Albaniens, und wann sollen die Beitrittsgespräche beginnen?
Berisha: Ich habe keine fixen Daten. Mein Job ist es, die Hausaufgaben zu machen. Ich verlange nur einen transparenten Prozess, bisher gab es den.
STANDARD: Kommende Woche will Serbien eine neue Kosovo-Resolution bei der Uno einbringen. Gibt es eine albanische Gegen-Resolution?
Berisha: Bis jetzt war die Kosovo-Frage eine Frage zwischen Belgrad und der internationalen Gemeinschaft. Aber nach dem Urteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH) sind diese Anstrengungen von Serbien sehr ungerechtfertigt, denn Serbien muss sich an das internationale Recht halten. Serbien hat ja selbst den IGH befragt und ein Urteil bekommen. Also sind alle Versuche, sich gegen das internationale Urteil zu stellen, bizarr und nicht hilfreich. Albanien wird selbst keine Resolution präsentieren, aber eine Resolution von anderen Ländern unterstützen. Wir hoffen, dass Serbien seine Resolution fallenlässt und sich auf die Vorgaben der EU und USA einlässt. Denn niemand will Serbien verurteilen, aber alle wollen das internationale Urteil respektieren. Im Fall, dass Serbien seine Resolution zurückzieht oder eine Resolution akzeptiert, in der die Unabhängigkeit, der Status und die territoriale Integrität des Kosovo nicht infrage gestellt werden, könnte dieser Resolution von allen Seiten zugestimmt werden, und sie könnte eine Basis für einen Dialog für alle anderen Fragen darstellen.
STANDARD: Sehen Sie mehr Pragmatismus in Belgrad?
Berisha: Ein pragmatischerer Zugang ist in deren bestem Interesse. Am Ende wird hoffentlich der Pragmatismus überwiegen.
STANDARD: Manche Stimmen in Brüssel sagen, die Balkanstaaten sollten 2018, also hundert Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, in die EU aufgenommen sein. Ist das realistisch?
Berisha: 2040?
STANDARD: 2018.
Berisha: 2080?
STANDARD: 2018.
Berisha: Ich fixiere üblicherweise kein Datum. Es ist ein schwieriger multilateraler Prozess, aber es ist mit Sicherheit ein irreversibler. (DER STANDARD, Printausgabe, 6.9.2010)
SALI BERISHA (65) ist seit 2005 albanischer Ministerpräsident. Der studierte Mediziner war eine der Schlüsselfiguren bei der Beendigung der Herrschaft der albanischen Steinzeitkommunisten Anfang der 1990er-Jahre. Während seiner Amtszeit als Staatspräsident, 1992 bis 1997, kam es zu Skandalen, bürgerkriegsähnlichen Zuständen und einem wirtschaftlichen Zusammenbruch. 2005 übernahm seine Demokratische Partei erneut die Macht in Tirana.
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