Schiiten fordern Autonomie
Irak vor dem Zerfall
Von Jochen Müter
Der irakische Ministerpräsident Nuri Al-Mailiki dürfte es schwer haben in diesen Tagen. Schmerzlich bewusst wird ihm sein, dass er trotz des massiven US-Militäraufgebots in seinem eigenen Land nicht viel zu sagen hat. Dabei hatte er es nach dem Sturz Saddam Husseins führen wollen – in den Frieden und die Einigung. Nun muss er hilflos zusehen, wie sein Irak auseinanderbricht.
Nicht nur, dass die tägliche Gewalt kein Ende nimmt und die USA überfordert sind. Nun hat auch noch die Schiiten-Partei Oberster Islamischer Rat ihre Anhänger aufgefordert, für die Gründung einer autonomen Region im Süd- und Zentralirak zu kämpfen. Und das, während das türkische Militär in der bereits autonomen Kurden-Region im Norden des Landes gegen die Terror-Organisation PKK einen Angriff führt, der die eh schon marode Infrastruktur weiter zerstört und dessen Ende nicht abzusehen ist. Mit einem Satz lässt sich die Lage beschreiben: Der Irak zerfällt.
Erklären sich die Schiiten für unabhängig, ist ein Zerfall nicht mehr aufzuhalten.
Einflussreiche Partei
"Wenn wir zur Gründung eines Autonomiegebietes südlich von Bagdad aufrufen, dann tun wir dass, weil wir fest daran glauben, dass dies zur Lösung vieler Probleme in den Bereichen Sicherheit, Wirtschaft, Gesellschaft und Wiederaufbau beitragen könnte", sagte der zweite Mann an der Spitze der Partei, Amar al-Hakim. Zehntausende schiitische Pilger jubelten ihm zu. Der Oberste Islamische Rat ist neben der Dawa-Partei von Ministerpräsident Al-Maliki die zweite der religiösen Schiiten- Parteien, von denen die Regierung in Bagdad dominiert wird.
Vor dem Hintergrund, dass die Schiiten gegenüber den Sunniten in der islamischen Welt zwar die kleinere der beiden Hauptgruppen stellen, ist es im Irak genau anders herum: Hier stellen die Schiiten mit rund 60 Prozent die Mehrheit. Unter Ex-Staatschef Saddam Hussein wurden sie jahrzehntelang unterdrückt, gefoltert und ermordet. Die Sunniten bekleideten dagegen die höchsten Ämter in Regierung und Militär. Mit dem Ende des Saddam-Regime hat sich das Blatt gewendet und die Schiiten haben mit Hilfe der USA und ihrer militärischen Allianz die Oberhand. Das Wort "Rache" ist dabei nicht ganz unangebracht.
Auch deshalb sehen die sunnitischen Iraker den Bestrebungen der schiitischen Bevölkerungsmehrheit mit großer Angst entgegen. Unter anderem befürchten sie, dass die Schiiten im Falle des Falles die Ölfelder im Süden des Landes kontrollieren können. Der rohstoffreiche Norden des Irak liegt längst in kurdischer Hand. Was bliebe dann für sie? Nicht viel.
Türkische Soldaten im Nordirak: Ankara hat "keinen Zeitplan".
Unterdessen gibt die Türkei bekannt, dass ihr Einsatz im Nordirak zeitlich nicht begrenzt ist. "Unser Ziel ist eindeutig, unser Einsatz ist klar, und es gibt keinen Zeitplan", so der türkische Gesandte Ahmet Davutoglu, der sich zu Gesprächen in Bagdad aufhält. Das bedeutet nur eins: Das Militär wird solange operieren, bis alle Stützpunkte der PKK zerstört sind. Da hat sich Ankara festgelegt.
Gates fordert schnelles Ende
Doch das kann dauern in einer Region, die unwirtlich ist und genug Rückzugspunkte bietet. Darüber hinaus ist die PKK kein kleines Grüppchen, sondern eine straff geführte Organisation. Da erscheint die Aufforderung von US-Verteidigungsminister Robert Gates an die Türkei, die Offensive so schnell wie möglich zu beenden, eher wie eine Pflichtübung.
"Unter schnell verstehe ich Tage, ein oder zwei Wochen oder so, nicht Monate", sagte Gates. Die Türkei dürfe sich in der Auseinandersetzung mit der PKK nicht auf militärische Mittel beschränken, sondern müsse auch auf politische und wirtschaftliche Initiativen setzen. Gates wird demnächst mit der türkischen Führung zusammenkommen, um die Lage zu besprechen.
Währenddessen werden die Kämpfe im Norden des Iraks immer blutiger. Der türkische Generalstab meldete den Tod von 77 weiteren PKK-Kämpfern und fünf türkischen Soldaten. Somit sind nach Darstellung der Armee seit Beginn der Offensive 230 Kurden und 24 Angehörige der Streitkräfte ums Leben gekommen.