Diesen Vorgang bezeichnet man in der postkolonialen Theorie als "
Othering". Ein kollektive Identität wird dadurch aufgebaut, dass es etwas Gegenteiliges gibt, von dem man sich abgrenzt und so auch eben seine eigene Identität abgrenzt. Es kommt überall auf dem Balkan zum Tragen.
Dieses Othering kommt bei Kroaten gegenüber Serben vor, bei Griechen gegenüber Türken, bei Albanern gegenüber Südslawen, bei Serben gegenüber Albanern. Die bulgarische Ethnologin und Historikerin Maria Todorova hat über dieses Phänomen im Rahmen ihrer Arbeiten über den "
Balkanismus" geschrieben (als Anlehnung an das "Orientialismus"-Konzept von Edward Said). Bezeichnend ist dabei, dass es Negativpole gibt, denen gegenüber man sich "überlegen" fühlt (andere Balkan-Völker) und Positivpole (vor allem "(West-) Europa"), denen man gegenüber sich minderwertig fühlt, so schreibt z.B. Prof. Dr. Brunnbauer im Rahmen seines Skripts
"Europa und der Balkan - Fremd- und Selbstzuschreibungen", Seite 10:
So ist es sehr bezeichnend, dass im Bulgarischen zum Beispiel die richtige, effiziente,
moderne Art, Dinge zu tun, als „po evropejski“ bezeichnet wird, während das Gegenteil „balgarska
rabota“ heißt. Im Serbischen findet sich ein analoger Ausdruck: „srpska posla“.
Das sind aber nur zwei Beispiele. Analog gibt es solche Bezeichnung auch bei den anderen Balkan-Völkern.
So schriebt Brunnbauer z.B. weiter (Seite 10):
Besonders deutlich ließ sich in den neunziger Jahren dieser Prozess im ehemaligen
Jugoslawien beobachten, wo sich seit den 1980er Jahren Slowenen und Kroaten immer stärker
als Teile (West-)Europas deklarierten – Franjo Tudjman meinte einst, die Grenzen Kroatiens
seien diejenigen Westeuropas –, während sie ihre südlichen Nachbarn (insbesondere
Serbien) als uneuropäisch, da „byzantinisch“, „osmanisch“ und „balkanisch“, bezeichneten
und ihnen die typischen orientalischen Eigenschaften zuschrieben: faul, unzuverlässig, gewalttätig,
intolerant, undemokratisch (selbst war man selbstverständlich genau das Gegenteil).
Weder in Slowenien noch Kroatien stößt man daher auf große Begeisterung, würde man diese
Gesellschaften als Teil des „Balkans“ bezeichnen (auch die Zugehörigkeit zu Südosteuropa
wird verneint). Vielmehr betonen Slowenen und Kroaten ihre Zugehörigkeit zur katholischen
Welt (im Gegensatz zum mehrheitlich orthodoxen und islamischen Balkan) und, dass sie als
Teile der Habsburgermonarchie nie aus der europäischen Geschichte herausgefallen seien,
wie das für den osmanischen Balkan postuliert wurde. West-Ost und Nord-Süd Dichotomien
fallen hierbei zusammen – wobei die Slowenen sich am Nordwestlichen und somit „europäischsten“
Pol positionieren.
(...)
Die Serben wiederum begründeten ihren
europäischen Charakter mit ihrer – wie sie das sahen – Frontstellung gegenüber dem Islam.
Sie führten den alten Mythos der antemuralis christianitatis ins Spiel, um sich und Europa
davon zu überzeugen, dass sie die Werte der europäischen Zivilisation gegen den ultimativen
Anderen, den islamischen Orient verteidigten.
Seite 11:
Es herrschte somit im ehemaligen Jugoslawien ein regelrechter Wettlauf darum, wer
sich als echter Europäer qualifizieren könne, wobei sich die Prätendenten jene Eigenschaften,
die Europa für sich in Anspruch nimmt (Zivilisation, Aufklärung, Fortschrittlichkeit), selbst
zuschrieben und den anderen Völkern im ehemaligen Jugoslawien die „orientalischen“ Charakteristika
zuschrieben;
(...)
Diese diskursive Operation, den eigenen europäischen Charakter zu Lasten anderer zu
konstruieren, ist natürlich keinesfalls neu – nicht zuletzt deshalb, weil Identität immer eine
relationale Größe darstellt, immer eine Bezugnahme auf andere voraussetzt.
Die christlichen
Völker des ehemaligen Osmanischen Balkans definierten bereits im 19. Jahrhundert ihre nationale
und europäische Identität in starker Abgrenzung zum Islam und den orientalischen
„Türken“. Damit versuchten sie, im bestehenden europäischen Diskurs über den „Orient“ ihren
Platz im Lager der Europäer zu erlangen, auch wenn dies die Verleugnung wesentlicher
Aspekte der eigenen Geschichte und Volkskultur, die stark von osmanischen Elementen geprägt
war. Darüber hinaus bedeutete dies die Dämonisierung und „Alterisierung“ der muslimischen
Minderheiten im eigenen Land, denen die Eigenschaften des Orients zugeschrieben
wurden, obwohl man zuvor Jahrhunderte lang mit ihnen friedlich zusammen gelebt hatte. Aber
das Gefühl, ein Grieche, Bulgare oder Serbe zu sein, beinhaltete eine bewusste Differenzierung
von der osmanischen (als orientalischen und islamischen) Kultur, und so schritten die
neuen nationalen Eliten nach der Etablierung der südosteuropäischen Nationalstaaten sofort
an die De-Osmanierung ihrer Kulturen, wie sich etwa in der radikalen Veränderung des
Stadtbildes vieler Städte am Balkan zeigte.
Der Anti-Islamismus wurde zu einem konstitutiven
Bestandteil der nationalen Identität vieler Balkan-Christen. Muslime wurden als rückständig,
feindlich, asiatisch wahrgenommen – und diese Wahrnehmung manifestierte sich im
19. und 20. Jahrhundert mehrfach in der Ermordung, Vertreibung oder Zwangsassimilierung
der Muslime durch die sich als europäisch und aufgeklärt betrachtenden christlichen Nationen
des Balkans. Ein prominenter serbischer Politiker aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg fühlte
sich von den Albanern („Arnauten“) sogar an Urmenschen erinnert, unter anderem weil es
unter den „Albanesen im 19. Jahrhundert noch geschwänzte Menschen“ gegeben hätte. Eine
solche extreme „Orientalisierung“ spricht dem „Anderen“ das Menschsein ab.