3. Die Ukraine-Krise: neue Konfrontation zwischen Russland und dem Westen
Putin definiert den Versuch, per EU-Assoziierungsabkommen die Westeinbindung der Ukraine zu vollenden, als endgültig nicht mehr hinnehmbare Verletzung russischer Ansprüche. Die Gründe dafür sind mit Blick auf die russischen Interessen an der Ukraine einerseits und die mit Abschluss des Abkommens nicht nur erwartbaren, sondern bezweckten Konsequenzen andererseits nicht schwer zu erraten – auch wenn man sich in der westlichen Öffentlichkeit „Putins Verhalten“ nur durch die Eigenarten seiner Geheimdienstler-Seele im Besonderen bzw. der russischen Volksseele im Allgemeinen erklären können will.
Die vitalen, zu unbedingt zu respektierenden Rechtsansprüchen erklärten Interessen Russlands an seinem westlichen Nachbarland sind erstens ökonomischer Art: Das wirtschaftliche Erbe, das den Zusammenbruch überlebt hat, ist bis heute davon bestimmt, dass die produktiven Grundlagen beider Nationen aus
einem gemeinsamen Wirtschaftsaufbau herrühren und als dessen Bestandteile funktioniert haben. Die vielfältigen arbeitsteiligen Verflechtungen und Abhängigkeiten – inkl. die brisanten Kooperationsbeziehungen der beiderseitigen Rüstungsindustrie und die gemeinsame Infrastruktur – wurden schließlich durch die neuen nationalstaatlichen Grenzen gar nicht aufgehoben. Die Ukraine stellt für Russland insbesondere ein wichtiges Transitland für den Export seiner flüssigen und gasförmigen Kohlenwasserstoffe dar. Als wichtigsten Wirtschaftspartner im Bereich der GUS hat Russland die Ukraine auch mit allen möglichen Angeboten zum Beitritt zu seiner Eurasischen Wirtschaftsunion zu bewegen versucht. Zweitens verfügt die Ukraine in den ihr von der Sowjetunion geschenkten Grenzen inklusive der Halbinsel Krim, mit denen sie 1991 aus dem sowjetischen Völkergefängnis ausgetreten ist, über eine strategisch beherrschende Stellung in Bezug auf das Schwarze und das Asowsche Meer; der von der Ukraine gepachtete Stationierungsort der Schwarzmeer-Flotte Sewastopol ist für Russland das entscheidende Mittel dafür, das Schwarze Meer als
sein Südmeer abzusichern. Und schließlich stellt die Ukraine mit ihrer vergleichsweise großen Landmasse – sie ist der größte Flächenstaat Europas – einen bedeutsamen Puffer zwischen der russischen Westgrenze und den östlichen NATO-Auslegern dar.
All dies wird durch den Plan der EU-Assoziierung der Ukraine – immerhin das nach EU-Angaben in seiner Tiefe ehrgeizigste Angebot, das die Union jemals abgegeben habe – untergraben. Dieses „Angebot“ zielt ja ausdrücklich darauf, den Staat gründlich aus seinen östlichen Beziehungen und Abhängigkeiten herauszubrechen und läuft seinem Gehalt nach auf die vollständige Unterwerfung der Ukraine unter die Interessen und die Vormundschaft der Europäischen Union hinaus. Die weitreichende Harmonisierung von Gesetzen, Normen und Regulierungen in allen ökonomischen Sektoren ist geeignet, die bis dato anders funktionierenden ökonomischen Verbindungen mit Russland zu zerstören – und soll das auch. Mit der Unterwerfung der Ukraine unter alle in Brüssel festgelegten Maßstäbe von good governance – bis hin zur außenpolitischen Einbindung des Assoziationspartners – wird Russland jeder weitere politische Einfluss auf Nachbarschaft und Brudervolk verwehrt. Und weil die Geschichte der Osterweiterung zudem noch lehrt, dass EU-Assoziierung bzw. -Beitritt und NATO-Partnerschaft bzw. -Beitritt – Konkurrenz oder Arbeitsteilung hin oder her – aus russischer Sicht dann doch Hand in Hand gehen, darf sich Putin sicher sein, dass über kurz oder lang der russische Stützpunkt auf der Krim gekündigt und die lange Grenze mit der Ukraine zur NATO-Grenze würde.
Das alles will Putin nicht mehr einfach als Kollateralschaden seiner Appeasement-Politik gegenüber dem Westen hinnehmen. Die Dreistigkeit, mit der im Vorfeld alle diesbezüglichen russischen Einwände unter dem Titel kein russisches Vetorecht gegen die Assoziierungspolitik der EU abgebügelt worden sind, sowie die Gnadenlosigkeit, mit der Janukowitsch zum Abschuss freigegeben worden ist, weil der den Abschluss des Abkommens unter gewisse Bedingungen stellen wollte, zeigen Putin, wie bewusst diese Verletzung russischer Interessen von westlicher Seite betrieben worden ist und wird. Seine Versuche, mit Druck und Angebot die Europa-Assoziierung der Ukraine zu hintertreiben, werden in dem Moment, als die ukrainische Regierung sich auf sie einlässt, durch einen Putsch gegen diese Regierung zunichte gemacht, von dem man inzwischen, mit ausreichendem zeitlichem Sicherheitsabstand, auch in solide antirussischen deutschen Leitmedien lesen darf, wie der Westen ihn orchestriert hat. Seitdem sitzt in Kiew eine Mannschaft am Ruder, die ihren prowestlichen Antirussland-Kurs zum einzigen und unverhandelbaren Programmpunkt macht und alle Befürchtungen Putins hinsichtlich einer der Assoziierung auf dem Fuße folgenden NATO-Vereinnahmung der Ukraine, die noch kurz vorher von europäischen Politikern als unbegründet zurückgewiesen worden sind, bestätigt. Das ist der Startschuss zum Bürgerkrieg in der Ukraine zwischen eben dieser prowestlichen Mannschaft und ihren Anhängern und den Teilen in der ukrainischen Bevölkerung, die bis heute noch nichts mit einer genuin ukrainischen, un- und antirussischen Volksnatur anzufangen wissen, also die Unterwerfung unter die Politik der Kiewer Regierung verweigern. Putin lässt die Krim besetzen, unterstützt die Aufständischen in der Ostukraine und verlangt vom Westen Mitaufsichts- und Schiedsrichterrechte über das beginnende Gemetzel. Mit diesem Doppelspiel als Ausstatter und Lenker einer Bürgerkriegspartei einerseits und Aufsichtsmacht über den Krieg andererseits, das man ihm im Westen so gern vorwirft, weil er es tatsächlich ungefähr so gut beherrscht wie seine westlichen Amtskollegen, versucht er, die Umwandlung der Ukraine in einen antirussischen NATO-Vorposten zu verhindern. Fertig ist er: der westlich-russische Stellvertreterkrieg in der Ukraine, den die auswärtigen Mächte um die Ukraine führen lassen.
Das „Revival“ der Militärallianz der Europäer mit der amerikanischen Weltmacht, der Nato, aus Anlass des Kriegs in der Ukraine, für den die Verbündeten in fest entschlossener Einseitigkeit Russlands Präsidenten verantwortlich machen, konfrontiert das „Führungsduo“ der EU und speziell die...
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