[h=2]Jugend im Internat: "Der Typ wird dir das Leben zur Hölle machen"[/h]
Er sollte nicht in der Gastronomie landen wie seine Eltern und Brüder, deswegen musste er aufs katholische Jungeninternat. Fortan war Alexandros Stefanidis als einziger Ausländer dort nur noch "Der Grieche". Und dann legte er sich auch noch mit Krüger an.
Das Erste, das man in einem Internat neben der festgeschriebenen Hausordnung lernt, ist, dass es noch eine zweite, ungeschriebene gibt. Es handelt sich hierbei weniger um eine Haus- als vielmehr um eine Hackordnung. Regel Nummer eins: Der Stärkere hat recht. Regel Nummer zwei: Leg dich mit niemandem an, den du nicht umhauen kannst.
Diese Regeln waren mir zwar seit Langem bekannt. Nur dachte ich, dass sich die Normen im katholischen Studienheim St. Pirmin von dene auf dem Gottesacker, einem Bolzplatz in der Karlsruher Innenstadt, auf dem ich mit meinen Bruder Ari und Freunden immer Fußball spielte, unterscheiden würden. Ein grobes Fehlurteil, dessen Konsequenzen mir erst mit der Zeit klar wurden. Kurz bevor Zimmernachbar Gustav und ich im Speisesaal Platz nehmen wollten, spürten wir von hinten einen heftigen Stoß. Mich schleuderte er nur zur Seite gegen einen Stuhl, Gustav aber fiel hin. Ich sah Tränen in seinen Augen und rief instinktiv: "Hey, kannst du nicht aufpassen?" Ungelogen. Der Typ war groß. Wirklich groß. Breite Oberarme, breite Brust. Mehr Zeit hatte ich nicht für eine erste Einschätzung.
"Hast du was gesagt, du kleiner Pisser?"
Mir sackte das Herz sofort in die Hose. Gustav wimmerte noch auf dem Boden, das konnte ich hören, aber alles andere um mich herum schien wie erstarrt. Als hätte jemand die Zeit angehalten und meinen Körper gelähmt. Es wurde plötzlich so still, dass ich glaubte, das Holz an der Decke knacksen zu hören. Mir wurde kalt, mein Zeigefinger zitterte. Das tat er immer, wenn ich Angst hatte.
Der erste Hieb traf die linke Schulter
Ich kannte zwar die Regeln, aber für mich hatten sie auf dem Gottesacker nie wirklich gegolten. Ich hatte ja Ari. Der Gedanke, dass er jetzt nicht hinter mir stand, dass er nicht gleich auftauchen würde, um die Situation zu entspannen, drückte den Schweiß auf meine Stirn. "Lass dich nicht auf einen Streit ein", sagte meine innere Stimme, so laut sie konnte. "Der poliert dir die Fresse", fügte sie ermahnend hinzu.
"Ich hab gesagt: Kannst du nicht aufpassen, du Penner?" Manche Entscheidung treffen wir so schnell, dass wir erst viel zu spät merken, wie falsch sie war - oder besser: wie sehr es sich gelohnt hätte, ein zweites Mal darüber nachzudenken.
Der erste Hieb traf meine linke Schulter, der zweite mein Brustbein. Als seine Faust mich in den Magen traf, sackte ich zusammen.
Sie nannten ihn Krüger. Eigentlich hieß er Frederik Kran. Im Kindergarten und in der Schule riefen sie ihn früher angeblich Freddy. Freddy Krüger. Nightmare on Elmstreet.
Mein Vater hatte mich vorgewarnt. Er kannte das aus eigener Erfahrung. Und auch wenn diese fast ein halbes Jahrhundert zurücklag: Sie war offensichtlich so aktuell wie zu seiner Zeit im Waisenhaus.
"Ältere Schüler hacken gern auf jüngeren herum. Sie stehen ganz oben in der Hierarchie und werden dich das auch spüren lassen." Ich runzelte die Stirn. "Ich sage ja nicht, dass du jedem Streit aus dem Weg gehen sollst. Aber mach dich nicht gleich am ersten Tag zu ihrer Zielscheibe. Okay?"
"Seit wann nehmen wir hier Griechen auf?"
Plötzlich packte mich Krüger an den Schultern und richtete mich wieder auf. Er zischte: "Kein Wort." Gerade waren die Erzieher im dritten Stock angekommen.
Herr Frieser blieb im ersten Raum bei seinen Fünft- und Sechstklässlern. Krüger hielt mich im Arm und grinste. Bartheim ging an uns vorbei.
"Seit wann nehmen wir hier eigentlich auch Türken auf, Herr Bartheim?", fragte Krüger seinen Erzieher. Bartheim schaute mich erstaunt an. Dann winkte er ab.
"Das ist kein Türke. Das ist ein Grieche", sagte Bartheim trocken. Fröhlicher tauchte hinter ihm auf.
"Frederik?", fragte er.
"Hab mich nur mit den Neuen bekannt gemacht", sagte Krüger und ließ mich stehen.
"Und seit wann nehmen wir hier Griechen auf?", fragte Krüger in Richtung Bartheim. Der machte aber nur eine schnelle Handbewegung, begleitet von einem kurzen Zischen.
"Ab auf deinen Platz."
"Alles in Ordnung, Alexandros?", fragte Fröhlicher.
Krüger blickte zurück.
Ich nickte. "Ja", antwortete ich. "Alles gut."
Die anderen Schüler, auch Gustav, hatten sich bereits hingesetzt, als die Erzieher im Speisesaal erschienen waren. Auf den langen Tischen standen je drei Eisenkannen. Sie waren mit kaltem Schwarztee gefüllt. Dazwischen standen drei ovale Platten, belegt mit Kochschinken, geschnittenem Brot, Butter, portionierter Marmelade. Das Besteck lugte aus tiefen grauen Krügen hervor, ebenso die Servietten. Abendbrot.
"Gratuliere, du Held"
Bum-Bum, mein anderer Zimmernachbar, hatte den Platz neben sich frei gehalten. "Gratuliere, du Held", flüsterte er, "du hast gerade dein Todesurteil unterschrieben." Ich schaute ihn ungläubig an. Er biss ein Stück seines Schinkenbrotes ab, kaute, schluckte.
"Dieser Typ wird dich ab heute nicht mehr in Ruhe lassen. Das ist dir doch klar, oder? Der macht dir das Leben zur Hölle." Es klang, als wüsste Bum-Bum sehr genau, wovon er sprach.
Krüger und seine Kameraden saßen an ihrem Oberstufen-Tisch, als wäre nichts passiert. Sie griffen abwechselnd nach dem Essen und begannen laut über den 1. FC Kaiserslautern zu reden. Über Wolfram Wuttke, Bruno Labbadia und das erst 19-jährige Talent Mario Basler. Auch das noch, dachte ich. FCK-Fans. Für einen Karlsruher SC-Fan wie mich war der FCK der größte Feind nach dem VFB Stuttgart. Mir war so schlecht, dass ich keinen Bissen runterbekam. Noch schlimmer aber fühlte ich mich, als Krüger mich dabei ertappte, wie ich ihn anstarrte. "Er wird dir das Leben zur Hölle machen", sagte meine innere Stimme.
Fröhlicher saß mit uns am selben Tisch. Ich beobachtete, wie behutsam er die Butter auf sein Brot strich, wie langsam er kaute, wie viel Zeit er sich nahm, um ein paar Fragen von anderen Schülern zu beantworten. Jede seiner Bewegungen, jedes seiner Worte schien durchdacht, als plane er sie lange im Voraus. Die Ruhe, die von ihm ausging, besänftigte mein nervöses Fingerzittern. Ich trank ein Glas kalten Tee. Das erste von geschätzt 6000 Gläsern kaltem Tee. Ich mag keinen kalten Tee.
Leben im Internat: Alexandros Stefanidis schreibt über seine Jugend - SPIEGEL ONLINE