"Das ist Lagos, Mann", sagt John.
Wir waren in seinem Slum von damals, und es roch wie nichts, was ich kannte. Und alle hier haben so traurige Augen. Oder nicht einmal mehr traurig. Das sind andere Menschen als Alte oder Arbeitslose bei uns. Die hier werden nicht geliebt, nicht gebraucht, nicht gefördert, nicht gewollt, sie sind ganz und gar überflüssig. Die haben keine Schulen, keine Versicherungen, keine Bücher. Sie haben nicht mal Luft, hier ist nur Gestank. Wenn man in einer Stadt wie dieser über Aids nachdenkt, die größte Bedrohung des Kontinents, kann man nur zu einem Schluss kommen: Bessere Voraussetzungen könnte das Virus nicht haben. Polygamie ist verbreitet in Afrika, Männer dürfen tun, was sie tun wollen, ungeschützt, und Frauen haben verfügbar zu sein; so ist es nicht immer, aber allzu oft. Dazu kommt die Armut. Die Aggressivität, der Hunger, die Not. Dazu Prostitution, Vergewaltigungen, Drogen. Dazu Wanderarbeit, zerrissene Familien. Dazu ein Glaube, der Kondome verdammt. Ein Bildungsniveau nahe am Analphabetentum, es leben Menschen in Lagos, die glauben, Aids werde vom Meerwasser übertragen: "Mein Vater hat in Port Harcourt gearbeitet, immer wieder fuhr er ans Meer, und danach wurde er krank. Es war das Meer", das erzählt eine junge Frau im Hotel. "Lagos: Centre of Excellence" steht auf jedem Nummerschild.
Und wenn jemand von der Uni abgeht und in seinen Beruf einsteigen will, hat er nur eine Chance, wenn er den künftigen Arbeitgeber besticht. Angestellter bezahlt Chef, ein Jahr lang, zwei Jahre lang, dann verdient der Angestellte erstmals Geld - falls er dann nicht gefeuert wird.
Und wenn jemand im Gefängnis sitzt und nicht weiß, warum, sollte er unbedingt reich sein, denn ohne Geld verhandelt kein Richter, ohne Geld gibt es keinen Raum für eine Verhandlung, ohne Geld fährt niemand den Gefangenen zum Gericht. Es ist lästig, dumpf, demütigend, und vermutlich sind das die letzten Zuckungen einer Gesellschaft, in der nichts mehr funktioniert. Es gibt keine Sicherheiten, es gibt kein Vertrauen mehr in Nigeria - wem soll man trauen, wenn Polizisten die miesesten Kerle von allen sind? Das ist das nigerianische Afrika. Und überall Werbetafeln über den Slums: zwei weiße Liegestühle an einem weißen Strand, "Deine Traum-Ferien", das ist der Slogan, der für die Lagos-Lotterie wirbt.
Time is up. We are closing. Ich muss diese E-Mail jetzt abschicken und weiß nicht, ob ich zu scharf war, ungerecht gegenüber einem geplagten Land. Nein. This is Lagos.