"Faktisch ist die Türkei eine Diktatur"
Ein Land wie ein Freiluftgefängnis, das Wort Erdogans ist Gesetz - der Politikwissenschaftler Burak Copur umreißt die Zukunft der Türkei düster. Von Europa verlangt er "klare Kante".
Ein Interview von
Hasnain Kazim
Fotos
AFP
Donnerstag,
21.07.2016 16:17 Uhr
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Burak Copur ist promovierter Politikwissenschaftler und lehrt als Türkei-Experte und Migrationsforscher am Institut für Turkistik der Universität Duisburg-Essen.
SPIEGEL ONLINE: Herr Copur, ist die
Türkei jetzt eine Diktatur?
Copur: Faktisch ist die Türkei eine Diktatur. Die Ausrufung des Ausnahmezustands bedeutet ein vollständiges Durchregieren von Staatspräsident
Erdogan. In dieser Situation haben seine Verordnungen direkt Gesetzeskraft, die Erlasse können selbst durch das Verfassungsgericht nicht aufgehoben werden. Das Parlament ist faktisch außer Kraft gesetzt.
Der Ausnahmezustand heißt noch mehr Macht für Erdogan und noch mehr Repressionen und Aggressionen gegenüber Regimekritikern und Oppositionellen. Erdogan verwandelt die Türkei in ein Freiluftgefängnis.
SPIEGEL ONLINE: Was bedeutet der Ausnahmezustand konkret für die Menschen in der Türkei?
Copur: Sie müssen jetzt bei jeder kleinen Kritik fürchten, dass die Gesetze des Ausnahmezustands gelten. Sie werden eingeschüchtert und mundtot gemacht. Der
Militärputsch ist glücklicherweise gescheitert, sonst wäre es für die Türkei noch dramatischer ausgegangen. Dann wäre das Land vermutlich in einen Bürgerkrieg geschlittert. Aber jetzt gibt es genauso wenig Anlass zur Freude, denn das Scheitern hat Erdogan in die Hände gespielt.
SPIEGEL ONLINE: Was genau meinen Sie damit?
Copur: Die dilettantischen Putschisten haben mit ihrem Harakiri nur den Rücken von Erdogan gestärkt. Eine Militärdiktatur ist abgewendet, aber dafür entsteht jetzt eine zivile Diktatur. Erdogan nutzt die Gunst der Stunde, um seine eigenen Machtinteressen durchzusetzen und in Richtung Alleinherrschaft durchzumarschieren.
Video: Erdogan verkündet Ausnahmezustand
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REUTERS
SPIEGEL ONLINE: Die türkische Regierung stellt ihr Vorgehen als legitime und notwendige Reaktion auf den Putschversuch dar. Können Sie das nachvollziehen?
Copur: Natürlich muss die Regierung reagieren. Sie hat ja sehr schnell reagiert, neueste Zahlen gehen von mehr als 65.000 Menschen im Staatsdienst aus, die suspendiert oder festgenommen wurden. Schon das ist völlig unverhältnismäßig. Die Ausrufung des Ausnahmezustands ist nur ein weiterer Schritt in Richtung Präsidialdiktatur. Im Übrigen richtet sich das Vorgehen Erdogans ja nicht nur gegen die
Gülen-Bewegung, die er hinter dem Putschversuch sieht, sondern gegen alle seine Kritiker. Es ist völlig abwegig, dass die Gülen-Bewegung so stark ist. Wir reden hier ja von zigtausend Menschen, gegen die nun eine Hetzjagd begonnen hat.
SPIEGEL ONLINE: Viele Anhänger Erdogans und der Regierungspartei AKP verweisen nun aber auf Frankreich, wo seit den Anschlägen von Paris 2015 auch der Ausnahmezustand gilt.
Copur: Die französische Demokratie genießt mein größtes Vertrauen, sie ist, im Gegensatz zur Demokratie in der Türkei, die Wiege der bürgerlichen Revolution. In der Türkei kann man sich nicht sicher sein, was passiert, wenn die Regierung oder Erdogan kritisiert werden. Daher ist das ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen. In der Türkei gilt jetzt zum Beispiel ein
Ausreiseverbot für Wissenschaftler, türkische
Forscher im Ausland werden zurückgerufen. Das ist ein massiver Angriff auf die Demokratie, den Rechtsstaat und die akademische Freiheit.
SPIEGEL ONLINE: Wohin steuert Erdogan?
Copur: Er will den Staat und die Armee nach seinen Vorstellungen umbauen. Sein Ziel ist: weg von der parlamentarischen Demokratie, hin zu einem autoritären Präsidialsystem. Der gescheiterte Militärputsch war da für ihn ein "Segen Gottes", den er jetzt ausnutzt, um seine Machtinteressen brutal durchzusetzen. Wenn er die Armee nur noch mit ihm ergebenen Leuten besetzt, schafft er sich wie nach dem iranischen Modell eine gehorsame "Islamische Revolutionsgarde". Das könnte auch eine Gefahr für die Weltsicherheit sein.
SPIEGEL ONLINE: Es gab und gibt auch zivile Übergriffe...
Copur: Zusätzlich terrorisieren fanatische AKP-Anhänger als Schlägertrupps die Menschen auf den Straßen. Sie verbreiten Angst und Schrecken bei Andersdenkenden, übrigens auch in Deutschland. Eine solche Entwicklung kennen wir nur aus totalitären Gesellschaften. Diese Dramatik wird außenpolitisch begleitet von neo-osmanischen Großmachtfantasien, mit denen Erdogan sich schrittweise vom Westen verabschiedet.
SPIEGEL ONLINE: Hängt das alles an der Person Erdogan? Steht nicht vielmehr die gesamte türkische Regierung in der Verantwortung?
Copur: Die Regierung ist nur noch ein Erfüllungsgehilfe von Erdogan. Schon jetzt ist die Türkei faktisch ein Präsidialsystem. Auch das Parlament hat nichts mehr zu sagen. Das Einzige, was Erdogan jetzt noch braucht, ist die juristische Legitimierung. Also eine Verfassungsänderung für das Präsidialsystem, weil er derzeit systematisch gegen die Verfassung verstößt.
SPIEGEL ONLINE: Erdogan wurde aber mit knapp 52 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Eine Mehrheit der Türken steht also hinter ihm, wie er selbst immer wieder betont. Auch jetzt
feiern ihn Hunderttausende auf den Straßen. Was genau verstehen wir im Westen also nicht, wenn wir ihn kritisieren?
Copur: Die Masse hat ja nicht immer recht. Das kennen wir aus der eigenen deutschen Geschichte. Hinzu kommt, dass Wahlen in der Türkei nicht fair und frei verlaufen. Erdogan kontrolliert die Medien, die Justiz und die Regierung. Wie soll es da zu fairen und freien Wahlen kommen? Man muss das Wahlergebnis akzeptieren, aber Demokratie bedeutet auch, dass man Minderheiten achtet und deren Rechte schützt. Davon kann in der Türkei keine Rede sein.
SPIEGEL ONLINE: Wie müsste Europa, wie müsste Deutschland Ihrer Meinung nach reagieren?
Copur: Europa hat sich wegen des Flüchtlingsabkommens lange Zeit weggeduckt. Die EU hat die drei Affen gespielt: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Das funktioniert aber nicht, sondern hilft indirekt beim Aufbau einer Autokratie mit. Manche weitsichtige Politiker haben erkannt, dass Brüssel sich nicht zum Wegbereiter einer Diktatur vor den Toren Europas machen darf. Gerade die Europäer sollten aus ihrer Vergangenheit wissen, wozu eine Politik der Beschwichtigung durch die Appeasement-Politik der Briten und Franzosen mit dem Münchener Abkommen von 1938 gegenüber Deutschland geführt hat. Erdogan versteht deshalb nur die Sprache der klaren Kante. In den zurückliegenden Tagen ist das von Seiten Europas endlich geschehen. Zum Beispiel, dass Deutschland klargemacht hat, dass mit der Wiedereinführung der Todesstrafe
eine rote Linie überschritten würde.
SPIEGEL ONLINE: Wie geht es nun weiter in der Türkei?
Copur: Ich befürchte, der Ausnahmezustand ist nur der Einstieg in einen permanenten Zustand von Angst und Einschüchterung. Und nachdem alle Kritiker mundtot gemacht oder beseitigt worden sind, wird Erdogan vermutlich ein Verfassungsreferendum oder sogar vorgezogene Neuwahlen ankündigen. Erdogan würde sich im Wahlkampf als Held des gescheiterten Militärputsches feiern lassen. Die AKP bekäme wahrscheinlich durch einen Erdrutschsieg die notwendige parlamentarische Zweidrittelmehrheit für eine Verfassungsänderung zur Errichtung eines autoritären Präsidialsystems. Solange Erdogan regiert, wird die Türkei nicht zur Ruhe kommen.