Der griechische Bestsellerautor Petros Markaris enthüllt unbekannte Aspekte des Massakers von Srebrenica
Gespenster des Balkan
Von Berthold Seewald
Vor einer Woche konnte man in einer dürren Meldung lesen, dass 120 Muslime in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo enttäuscht ein Zeltlager abbrachen. Zweieinhalb Monate hatten sie darin campiert, um die Welt auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen, ihre Heimatstadt aus dem serbischen Landesteil zu lösen. Am gleichen Tag warf der serbische General Zdravko Tolimir dem UN-Kriegsverbrechertribunal vor, in Belgrad widerrechtlich verhaftet und nach Den Haag gekidnappt worden zu sein.
Zwei Seiten der immer gleichen Medaille. Ihr Name: Srebrenica, der Ort im äußersten Osten Bosniens, der zum Symbol dafür wurde, dass auch nach der Befreiung von Auschwitz der Völkermord europäische Wirklichkeit ist.
Heute vor zwölf Jahren, am 11. Juli 1995, drangen serbische Guerillaverbände in die mit Flüchtlingen überfüllte Stadt ein. Zwar hatten die UN Srebrenica zur Schutzzone erklärt, aber die 170 niederländischen Blauhelme sahen sich außerstande, das, was folgte, zu verhindern. Frauen und Kinder wurden der Stadt verwiesen, Männer ausgesondert und abtransportiert. 10 000 bis 15 000 Mann versuchten, mit den Trümmern der Armee Bosnien-Herzegowinas nach Nordwesten durchzubrechen, doch viele gerieten in Gefangenschaft. Zwölf Tage später erklärte der UN-Menschenrechtsbeauftragte Tadeusz Mazowiecki, von 40 000 Einwohnern der Enklave seien 7000 offenbar verschwunden. Heute weiß man, dass sie systematisch exekutiert wurden, von Serben, wie die Prozesse gegen Tolimir und andere zeigen. Noch immer lebt der verantwortliche Serbengeneral Ratko Mladic in Freiheit. Bis Ende des Jahres will ihn Serbien an das UN-Tribunal in Den Haag überstellen, so das "strategische Ziel", heißt es.
Umso erstaunlicher klingt daher folgende Passage aus einem Kriminalroman: "Hört gut zu, was wir euch zu sagen haben, ihr publicitygeilen Politiker, ihren Kaffee trinkenden Sofapupser, ihr Geldsäcke ... Wir griechischen Freiwilligen haben an der Seite der serbischen Bosnier, unserer christlichen Brüder, gegen die islamische Barbarei und für die Freiheit und den orthodoxen Glauben gekämpft, als unsere von der Nato gekauften Politiker dem Bombardement Serbiens tatenlos zugesehen bzw. die griechischen Grenzen denjenigen geöffnet haben, welche die serbische Zivilbevölkerung, unsere christlichen Brüder, getötet haben. Und nun wollt ihr uns an das von den Amerikanern und der Nato kontrollierte Kriegsverbrechertribunal in den Haag ausliefern. Das werden wir nicht zulassen." Diese Sätze legt der griechische Schriftsteller Petros Markaris in seinem aktuellen Band "Der Großaktionär" (WELT v. 16.4.) einer "Organisation Griechischer Freiwilliger für das serbische Bosnien" in den Mund - und rührt damit an ein griechisches Tabu. Zwar hatten griechische Medien nach dem Fall von Srebrenica von der Dankbarkeit berichtet, die "die serbischen Soldaten für die griechischen Freiwilligen empfinden, die an ihrer Seite kämpfen". Doch spätestens, als die Massengräber als Ergebnisse dieser Waffenbrüderschaft bekannt wurden, zog man es in Griechenland vor zu schweigen.
Dieser - übliche - Umgang mit heikler Vergangenheit macht das neue Buch von Petros Markaris so brisant. Seit der gebildete Feingeist, der sich unter anderem als Co-Autor des Filmemachers Theo Angelopoulos und Übersetzer von Goethes "Faust" einen Namen gemacht hat, unter die Kriminalschriftsteller gegangen ist, zählt er zu den meistgehörten Stimmen Griechenlands. Seine Geschichten um Kostas Charitos, den desillusionierten Leiter der Athener Mordkommission mit sanguinem Charakter, stehen auf hellenischen Bestsellerlisten, der vierte Charitos-Roman monatelang. So darf als sicher gelten, dass der Gedanke, Landsleute wären in Srebrenica dabei gewesen, heute den meisten Griechen vertraut ist.
Griechen wie der Autor Takis Michas ("Die unheilige Allianz - Griechenland und Milosevic Serbien") kämpfen zwar darum, dass dieses Kapitel endlich juristisch aufgearbeitet wird, aber ohne nennenswerten Erfolg. Auch Markaris möchte seine Popularität offensichtlich nicht über Gebühr belasten. Zwar stellt er die Serbien-Kämpfer als rechtsradikale Sektierer dar, doch die wirklichen Bösen in seiner kruden Handlung - einerseits bemächtigen sich Terroristen einer Fähre, andererseits sterben zahlreiche Stars der Werbeindustrie - sind Kollaborateure anderer Art: mit den Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Über alle Verschlingungen hinweg aber zeichnet sein Buch die Gespenster über Srebrenica, über dem Balkan.
"Welcher Grieche ... würde es hinnehmen, auf der Straße von einem albanischen Bullen angehalten und nach dem Ausweis gefragt zu werden" - wobei Albaner auch durch Bulgare, Mazedonier oder Türke ersetzt werden könnte. Das ist das "Gesetz des Dschungels", das Markaris eher nebenbei erklärt: die atavistische Tradition aus osmanischen Zeiten, dass nur tote Feinde gute Feinde sind, die auch die herzlich miteinander verfeindeten Nationalismen des Balkan zu ihren Leitlinien gemacht haben. Danach ist dein Nachbar dein Feind, aber der Nachbar deines Nachbarn dein Freund. Daher kommt es, dass die Griechen die Serben als ihre natürlichen Verbündeten ansehen, während die orthodoxen Brüder aus Bulgarien beiden ein Dorn im Auge sind.
Das anzuklagen liegt Markaris fern. Vielleicht 100 Mitglieder, schätzt man, zählte die hellenische Freiwilligentruppe, die im bosnisch-serbischen Drina-Korps kämpfte. Das ist wenig, gemessen an der öffentlichen Meinung, die leidenschaftlich für die Serben Partei nahm. Lakonisch zählt Markaris auf, die Bürgerkriege während des Freiheitskrieges im 19. Jahrhundert, die Bürgerkriege während des Ersten, des Zweite Weltkrieges, bis 1949, dazu die Guerillakriege des 19. Jahrhunderts, die Katastrophe gegen die Türken, die Niederlage gegen die Deutschen, zuletzt die Selbstzerfleischung unter der Obristendiktatur 1967 bis 1974. Griechenland ist ein trauriges Beispiel dafür, wie Kriege und Unterdrückung die Völker des Balkan geprägt haben und prägen. Dass nur 100 gegen Srebrenica zogen, darf schon der mäßigenden Wirkung der EU zugeschrieben werden.
Die Schluchten des Balkan, lernen wir, waren das Laboratorium, in dem die Welt das Instrumentarium des modernen Völkermords erprobt hat. Der "Bevölkerungsaustausch" genannte Euphemismus, nach dem Millionen von Menschen - mehr oder weniger planmäßig und in mörderischer Eile - vertrieben wurden, ist eine diplomatische Erfindung des Balkankriege von 1912/13. Von dort führt der direkte Weg nach Srebrenica.
Der griechische Bestsellerautor Petros Markaris enthüllt unbekannte Aspekte des Massakers von Srebrenica: Gespenster des Balkan - DIE WELT - WELT ONLINE