Gestern um 10:23 in der Nähe von Istanbul ·
Mittlerweile haben sich alle schon an diesen Zustand gewöhnt: Ganz viele Wege sind abgesperrt, die Busse fahren kaum noch und wenn, dann immer nur bis zu bestimmten Absperrungen. Zum Taksim kommt man NUR zu Fuß und das auch nur über viele Umwege. Ganz viele Geschäfte machen gar nicht mehr auf, andere schließen schon sehr früh.
Auf den Straßen werden von den Händlern nicht mehr gefälschte Ray Ban-Brillen verkauft sondern Gasmasken und Taucherbrillen. Es ist schon völlig normal die Menschen auf den Straßen mit Schutzhelm, Taucherbrille und Maske zu sehen. Als ich gestern nur mit einem Schal um meinen Hals abends in Besiktas herumlief, kamen sofort 2 Mädels zu mir her und haben mich gefragt, wieso ich ohne Schutz herumlaufe und mir ihre Gasmaske angeboten.
Die meisten Clubs und Bars öffnen schon gar nicht mehr. Manchmal hört man aus 1-2 Clubs Musik, diese sind allerdings leer. Am Sonntagmittag haben meine Freunde und ich uns wieder auf den Weg zum Taksim-Platz gemacht und sind in den GeziPark. Im Park war eine unglaublich riesige Menschenmenge, unter ihnen auch viele Prominente. Sie haben sich einfach unter das Volk gemischt und mitgemacht. Alle haben gemeinsam gesungen und protestiert. Am Eingang vom Park waren ganz viele Stände aufgebaut. Die Menschen dort haben allen Demonstranten kostenlos Essen, Trinken, Regenjacken, Masken, Schals und Jacken verteilt und sie ständig motiviert und gesagt wir würden das gemeinsam schaffen. Es war eine unfassbar tolle und friedliche Stimmung, alle waren überglücklich! Wir waren fast den ganzen Tag dort, da die Polizei wegen der Barrikaden nicht kommen konnte.
Abends wollte ich wieder nach Besiktas, nach Hause. Als wir ein ganzes Stück gelaufen waren, haben wir ein Taxi entdeckt und wollten den Fahrer gerade fragen, ob er uns ein Stück mitnehmen könnte, da stiegen eine Frau und ein Mann mit angeschwollenen roten Augen aus dem Taxi und schrien, wir sollen auf keinen Fall Richtung Besiktas gehen, dass sie gerade von dort geflüchtet sind. Die Frau war außer sich und sagte, dass die Polizisten sich dort im Park versteckt hatten und dann plötzlich alle gemeinsam mit Tränengas und Wasser angegriffen haben. Eine andere Gruppe war von dem Tränengas wie gelähmt. Sie sagten, dass das Tränengas mit jedem Tag aggressiver wird, dass es mittlerweile nicht nur an den Augen und an der Nase brennt, sondern am gesamten Körper. Sie sagten, sie könnten sich nur noch langsam bewegen und denken. Nachdem immer mehr Gruppen aus der Richtung kamen und uns warnten, bin ich zurück und habe bei einer Freundin Unterkunft gefunden.
In dieser Zeit waren andere Freundinnen von mir mitten in Besiktas. Am Telefon haben sie mir erzählt, dass die Lage dort sehr schlimm sei. An diesem Abend wurden zig Demonstranten festgenommen und es kam wieder zu Ausschreitungen. Sie haben erzählt, dass sie gesehen haben, wie eine kleine Gruppe die Polizisten darum gebeten hat, sie durch zu lassen, dass sie nur nach Hause wollen. Die Polizisten hätten ihnen versichert, nichts zu machen, sie durchgelassen und sie anschließend von hinten mit Tränengas angegriffen. Wir haben wieder von zahlreichen Verletzten gehört.
Auf Facebook beschreibt einer, der festgenommen wurde davon, wie er und viele andere die festgenommen wurden, misshandelt wurden und das obwohl sie die Polizei weder verbal noch physisch angegriffen haben. Am nächsten Morgen habe ich mich auf den Weg nach Besiktas gemacht, die Lage hätte sich erst in den Morgenstunden beruhigt. Unterwegs waren schon wieder etliche Panzer und Polizisten aufgestellt. Hier lerne ich zum ersten Mal ein Gefühl kennen, das ich aus Deutschland nicht kenne: Ich habe Angst, wenn ich Polizisten sehe, anstatt mich neben ihnen in Sicherheit zu fühlen. Ich habe dann eine junge Studentin neben den Polizisten gesehen, wie sie heulend geschrien hat „ Wieso macht ihr das? Ihr seid doch UNSERE Polizisten!“ Ich bin dann auch dazu und wir wollten uns mit den Polizisten unterhalten.
Sie haben uns dann aber weggeschuckt und gesagt wir sollen gehen. Die Frau konnte sich lange nicht beruhigen und nicht aufhören zu weinen. Wenn ich zuhause bin, dann nur um im Internet Bilder und Videos zu teilen und um mich zu informieren, was in anderen Städten in der Türkei passiert, denn mittlerweile wird nicht nur in Istanbul protestiert. Lange halten wir es zuhause aber nicht aus, wir haben alle das Gefühl raus zu den anderen zu müssen. Wir vergessen oft zu essen, unser Alltag besteht nur darin hinauszugehen und zu demonstrieren, 2-3 Stunden zu schlafen und im Internet zu teilen. Die Bilder und Videos, die mittlerweile zu sehen sind, sind herzzerreisend! Videos in denen 10 Polizisten auf eine junge Frau einschlagen, wie Polizisten versuchen, Tränengas durch Fenster in die Wohnungen einzuschmeißen, oder brutal mit dem Panzer auf die Menschen losfahren. Draußen versuchen alle diese grausamen Dinge mit dem Handy festzuhalten, da das Vertrauen in die türkischen Medien komplett verloren gegangen ist.
Erst JETZT ist wohl langsam auf einigen Sendern die Rede von einem Protest. Zuvor wurde nicht mal erwähnt, dass so etwas stattfindet. Aber nicht nur die Medien… Eine Freundin aus Deutschland wollte mich in Istanbul besuchen kommen. Als sie der Turkish Airlines (ca. 50% der Airline gehört dem Staat) sagte, sie wolle den Flug wegen der derzeitigen Situation absagen, antworteten diese, sie wüssten nicht, wovon meine Freundin spreche, dass es in Istanbul keinerlei Vorfälle gäbe. Die Situation hier wird jeden Tag etwas schlimmer! Immer mehr Zivilpolizisten mischen sich unter die Demonstranten und nehmen sie entweder fest oder greifen sie körperlich an. Immer mehr Demonstranten haben Angst. Aber die „Stimmung“ ist nach wie vor dieselbe. Die Autos auf den Straßen unterstützen die Demonstranten auf der Straße mit Hupen, Menschen, die sich nicht raus trauen, nehmen ihre Töpfe in die Hand, schauen aus dem Fenster und machen bis spät in die Nacht Krach. Und auch ihr macht was! Der Text, den ich geschrieben habe, wurde mittlerweile fast 1000-mal geteilt. Ich bekomme jeden Tag Nachrichten von Menschen, die ich nicht kenne, die mir sagen, dass sie uns unterstützen und dass ich weiter schreiben soll. Das macht uns überglücklich und hilft! Nochmals vielen Dank! DANKE DANKE DANKE! Her yer Taksim, her yer direnis!
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