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Proteste in der Türkei
Wir sind Istanbul!
von Hatice Akyün
Lange haben die Menschen in der Türkei hingenommen, dass die Regierung in ihr Privatleben hineinregiert. Doch das brutale Vorgehen der Polizei war der Tropfen zuviel. Jetzt hat die Politik ganze Familien gegen sich, vom konservativen Opa bis zur liberalen Enkelin.
Leben wie ein Baum, einzeln und frei, und brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht, heißt es in einem Gedicht des türkischen Dichters Nazim Hikmet. Das, was in Istanbul passiert, trifft uns deutsche Türken mitten ins Herz. Es ist mehr das Wie als das Was. Proteste gibt es in Istanbul tagtäglich gegen alles und jeden, aber die Unverfrorenheit, friedliche Bürger im Schutznebel von Tränengas krankenhausreif zu prügeln, war der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
...
Die Regierung mischt sich in die Belange des Einzelnen ein. Eine türkische Frau soll drei Kinder bekommen, Abtreibung wird erschwert, Alkohol wird aus dem öffentlichen Leben verbannt, religiöse Schulen werden gefördert und ein Gesellschaftsbild zelebriert, das weder säkular noch selbstbestimmt ist. Dazu kommt der Unmut über Megaprojekte – die dritte Bosporus-Brücke, der neue Flughafen, der Ausverkauf der Stadt, die Bauwut, die Istanbul umkrempelt und die Innenstadt für Normalverdiener unbewohnbar macht.
...
Doch nun hat sich die Wut an einem kleinen Park in Taksim entzündet. Wahrscheinlich hätte sich auch das ohne großes Aufsehen erledigen lassen, wäre die Polizei nicht extrem brutal gegen die Parkschützer vorgegangen. Die Bürger zudem als Extremisten zu denunzieren, war der Beginn des Zusammenschlusses der Istanbuler, egal welcher politischen Überzeugung.
...
Auf Familienfesten wahrt man den Burgfrieden, man streitet, aber am Ende bleibt man eine Familie. Diese „Familie“ wurde nun durch das harte Vorgehen der Polizei verunglimpft. Deshalb protestieren sie, die Linken, die Rechten, die Alten, die Jungen, die Türken und Kurden und sagen: Es reicht uns! Wir wollen von unserer Regierung nicht länger vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Wir lassen uns nicht vorschreiben, wie wir glücklich zu sein haben.
„Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“, heißt es bei Bertold Brecht. Der Ministerpräsident sollte den unbequemen Deutschen lesen, dann könnte er vielleicht verstehen.
Proteste in der Türkei: Wir sind Istanbul! - Meinung - Tagesspiegel
Heute ist übrigens der 50. Todestag von Nazim Hikmet (20.1.1902 - 3.6.1963):
Leben
Leben wie ein Baum
einzeln und frei
und brüderlich
wie ein Wald
das ist
unsere Sehnsucht!
yasamak
Yasamak bir agac gibi,
tek ve hür,
Ve bir orman gibi
kardescesine,
Bu
bizim Hasretimiz!
Wir sind Istanbul!
von Hatice Akyün
Lange haben die Menschen in der Türkei hingenommen, dass die Regierung in ihr Privatleben hineinregiert. Doch das brutale Vorgehen der Polizei war der Tropfen zuviel. Jetzt hat die Politik ganze Familien gegen sich, vom konservativen Opa bis zur liberalen Enkelin.
Leben wie ein Baum, einzeln und frei, und brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht, heißt es in einem Gedicht des türkischen Dichters Nazim Hikmet. Das, was in Istanbul passiert, trifft uns deutsche Türken mitten ins Herz. Es ist mehr das Wie als das Was. Proteste gibt es in Istanbul tagtäglich gegen alles und jeden, aber die Unverfrorenheit, friedliche Bürger im Schutznebel von Tränengas krankenhausreif zu prügeln, war der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
...
Die Regierung mischt sich in die Belange des Einzelnen ein. Eine türkische Frau soll drei Kinder bekommen, Abtreibung wird erschwert, Alkohol wird aus dem öffentlichen Leben verbannt, religiöse Schulen werden gefördert und ein Gesellschaftsbild zelebriert, das weder säkular noch selbstbestimmt ist. Dazu kommt der Unmut über Megaprojekte – die dritte Bosporus-Brücke, der neue Flughafen, der Ausverkauf der Stadt, die Bauwut, die Istanbul umkrempelt und die Innenstadt für Normalverdiener unbewohnbar macht.
...
Doch nun hat sich die Wut an einem kleinen Park in Taksim entzündet. Wahrscheinlich hätte sich auch das ohne großes Aufsehen erledigen lassen, wäre die Polizei nicht extrem brutal gegen die Parkschützer vorgegangen. Die Bürger zudem als Extremisten zu denunzieren, war der Beginn des Zusammenschlusses der Istanbuler, egal welcher politischen Überzeugung.
...
Auf Familienfesten wahrt man den Burgfrieden, man streitet, aber am Ende bleibt man eine Familie. Diese „Familie“ wurde nun durch das harte Vorgehen der Polizei verunglimpft. Deshalb protestieren sie, die Linken, die Rechten, die Alten, die Jungen, die Türken und Kurden und sagen: Es reicht uns! Wir wollen von unserer Regierung nicht länger vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Wir lassen uns nicht vorschreiben, wie wir glücklich zu sein haben.
„Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“, heißt es bei Bertold Brecht. Der Ministerpräsident sollte den unbequemen Deutschen lesen, dann könnte er vielleicht verstehen.
Proteste in der Türkei: Wir sind Istanbul! - Meinung - Tagesspiegel
Heute ist übrigens der 50. Todestag von Nazim Hikmet (20.1.1902 - 3.6.1963):
Leben
Leben wie ein Baum
einzeln und frei
und brüderlich
wie ein Wald
das ist
unsere Sehnsucht!
yasamak
Yasamak bir agac gibi,
tek ve hür,
Ve bir orman gibi
kardescesine,
Bu
bizim Hasretimiz!