Zum Kosovo gibt es ein ca. 50-seitiges Rechtsgutachten vom internationalen Gerichtshof, welches die Funktionsweisen des Völkerrechts anschaulich darstellt. Es stimmt auch nicht, wie hier im Thread erwähnt, dass die einzige Aussage ist, dass die Frage falsch formuliert wurde. In dem Gutachten wird ausgiebig auf den Status des Kosovo sowohl im Kontext des Völkerrechts allgemein, als auch im Kontext der speziellen Rechtslage der Resolution 1244 eingegangen. Dieses Gutachten ist für jede Art von Fragestellung bezüglich der Rechtmäßigkeit der Unabhängigkeit gültig, und nicht nur für eine ganz spezielle. Da es sehr wichtig und wegweisend ist widme ich ihm mal einen längeren Beitrag.
Hier kann es in voller Länge nachgelesen werden:
https://unmik.unmissions.org/sites/default/files/old_dnn/ICJ decision on Kosovo 22 July 2010.pdf
Zum Teil der Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht allgemein:
Hier wird zunächst einmal festgehalten, dass die territoriale Integrität prinzipiell im Wortlaut nur ZWISCHEN Staaten gilt. Ob und wie sich die territoriale Integrität im Bezug auf Akteure INNERHALB eines Staates verhält ist explizit nirgends festgehalten. Dies kann sowohl nach historischer als auch teleologischer Rechtsauslegung nachvollzogen werden. Denn in der Zeit, als das Völkerrecht entstanden ist, ging es primär darum, Staaten Sicherheit vor Invasion durch einen anderen Staat zu geben. Es ist also offensichtlich, dass mit territorialer Integrität zuvorderst gemeint ist: Staat A darf die Grenze von Staat B nicht ohne Erlaubnis von Staat B übertreten. Was aber ist, wenn der Akteur, der die territoriale Integrität gefährdet selber in Staat A lebt, darüber gibt es keine explizite Rechtsgrundlage.
D.h. ob ein einzelnes Volk eines Mehrvölkerstaates die territoriale Integrität des Staates wahren muss oder nicht, ist explizit nicht niedergeschrieben. Die Antwort darauf könnte also prinzipiell Ja oder Nein lauten. Das ist insofern wichtig, weil zur Beantwortung dieser Frage deswegen keine Rechtstexte herangezogen werden können. Stattdessen stützt sich das Gutachten auf die Rechtspraxis.
Zur Rechtspraxis wird auf verschiedene Resolutionen und Präzedenzfälle verwiesen. Die Argumentation, die sich aus diesen Verweisen ergibt, ist im Allgemeinen folgende:
Der Staat A hat prinzipiell auch gegenüber einer innerhalb des Staates lebenden Minderheit ein Recht auf territoriale Integrität. Gleichzeitig hat aber diese Minderheit auch ein Recht auf Selbstbestimmung. Dieser Widerspruch wird in der Praxis mithilfe von weitreichender Autonomie für das Minderheitenvolk gelöst. D.h. also der Staat hat das Recht auf territoriale Integrität, steht aber auch in der Pflicht dem Minderheitenvolk Schutz und Autonomie zu gewährleisten. Die Minderheit hat das Recht auf Selbstbestimmung in Form weitreichender Autorität, hat aber auch die Pflicht die territoriale Integrität des Staates zu wahren.
Die Anwendung dieser Prinzipien auf den Fall Kosovo sieht wie folgt aus: Die einseitige Löschung des Autonomiestatus des Kosovo 1989 durch die serbische Zentralregierung war eindeutig völkerrechtswidrig. Wenn es im Kosovo also eine Handlung gab, die ganz und gar unstrittig völkerrechtswidrig gewesen ist, so ist das die einseitige Löschung der Autonomie.
So weit, so gut. Wie sieht es aber mit der einseitigen Ausrufung der kosovarischen Unabhängigkeit 2008 aus?
Hier wird wieder auf verschiedene Praxisfälle hingewiesen, wie bspw. Die Fälle der europäischen Kolonien, aber auch auf Fälle in nicht-kolonialem Verhältnis, wie Ost-Timor. Das maßgebliche Kriterium ist dabei das VERTRAUENSVERHÄLTNIS zwischen Minderheit und Staat. Das Vertrauensverhältnis kann auf verschiedene Weisen zerstört werden. Im Wesentlichen darin, indem ein Staat schwere Menschenrechtsverletzungen gegen die Minderheit begonnen und ausgeführt hat. Zum anderen auch, indem bspw. eine gewährte Autonomie einseitig ohne Begründung entzogen wurde.
Im Kosovo treffen beide Kriterien zu. Wie hier mit Sicherheit jeder kosovo-albanische User aus seiner eigenen Familiengeschichte kennt war die Menschenrechtslage im Kosovo verheerend. Kosovo-Albaner wurden:
*Massenweise entlassen und ihre Arbeitsplätze angesiedelten Serben gegeben.
*In Schulen und anderen öffentlichen Instutionen wurde „Rassentrennung“ eingeführt, d.h. serbische und albanische Schüler durften nicht mehr in die gleiche Klasse gehen.
*Alle albanischen Schulen, Kultureinrichtungen, Vereine u.ä. geschlossen und verboten.
*Für den Gebrauch der albanischen Sprache in der Öffentlichkeit oder für das Zeigen nationaler Symbole wurden Prügel- und Haftstrafen verhängt.
*Die albanische Bevölkerung war der polizeilichen Willkür ausgesetzt mit unbegründeter Prügel jeden Tag und Todesopfern jedes Jahr, also selbst für Albaner, die sich an die „Regeln“ gehalten haben und kein Albanisch gesprochen haben. Die serbischen Polizisten wurden nie rechtlich für ihre Gewalt verfolgt.
*Der Zustand der vielen inhaftierten Albaner war miserabel und war de facto Folter.
*Als der Krieg begonnen hat, wurde massakriert, vergewaltigt und vertrieben.
Wer den kosovo-albanischen Usern nicht glauben will, der kann auch das Internet bemühen, Quellen dazu sind äußerst zahlreich vorhanden. Eine extra Quelle füge ich nicht an, denn wer den zahlreichen, schnell zu findenden Quellen im Internet keinen Glauben schenkt, der wird es auch nicht tun, wenn ich jetzt eine davon hier verlinke.
Laut dem IGH hat der Kosovo also deswegen ein Recht auf Unabhängigkeit, weil der serbische Staat durch seine Taten das Vertrauensverhältnis so sehr beschädigt hat, dass ein Weiterleben in diesem Staat für die Kosovo-Albaner nicht zumutbar gewesen ist.
Es ist nun mal auch so, dass die kosovarischen Vertreter zwar mit Tadic und anderen gemäßigten Politikern einer demokratischen serbischen Partei geredet haben. Zu diesem Zeitpunkt aber war die ultranationalistische SRS trotzdem die stärkste politische Kraft im Land. Es gab für die Albaner das realistische Szenario, dass man sich zwar mit Tadic auf eine Autonomie geeinigt hat, diese aber sofort wieder entzogen wird, und die gesamten Menschenrechtsverletzungen zurückkommen, sobald die SRS oder andere Ultranationalisten an die Macht kommen. Genau das ist mit zerrüttetem Vertrauensverhältnis gemeint. Es sei hier auch mal erwähnt, dass Russland selbst während den ebenfalls sehr brutalen Tschetschenien-Kriegen niemals an der Autonomie der Tschetschenen gerüttelt hat.
Zu dem spezielleren Teil in Bezug auf Resolution 1244 und den konkreten Umständen des Kosovo (genaue Menschenrechtslage im Kosovo, gewaltfreier Widerstand unter Rugova usw.) schreibe ich nicht viel, da das sehr ins mühsame Detail geht. Das Gutachten kommt jedenfalls zu dem Schluss, dass der Wortlaut und die Struktur der Resolution durchaus eine einseitige Unabhängigkeit ermöglicht bzw. zumindest nicht verbietet. Zu der Resolution gibt es auch eine kleine Geschichte: Die chinesischen Vertreter an der UNO haben die Resolution 1244 gelesen, und daraufhin sofort ein Veto dagegen vorbereit . Denn im Gegensatz zu den serbischen Vertretern haben sie die Resolution auch voll und ganz verstanden, und haben gewusst, dass sie Grundlage einer einseitigen Unabhängigkeit sein kann. Als sie jedoch erfahren haben, dass die Serben zustimmen, haben sie ihr Veto nicht eingelegt. Die Moral der Geschichte ist, wer als Volk solche nationalistischen Bauern wie Milosevic an die Macht bringt, der braucht sich im Nachhinein auch nicht darüber beschweren, dass er zu dämlich gewesen ist den Text der Resolution richtig zu verstehen.
Zusammenfassend also: Die Unabhängigkeit des Kosovo ist im Allgemeinen wie Speziellen völkerrechtskonform.
Nun also zu dem Threadthema, inwiefern ist Kosovo ein Präzedenzfall für die Krim, Abchasien und Süd-Ossetien, Republik Srpska, Westmazedonien, Tschetschenien etc. pp.? Laut dem Gutachten müssen zwei Dinge passiert sein: Einseitige Löschung bzw. Verweigerung von Autonomie, und schwere Menschenrechtsverletzungen. Auf der Krim, in Westmazedonien, oder in der Republik Srpska gab es weder das eine, noch das andere. In Tschetschenien gab es zwar schwere Menschenrechtsverletzungen, aber die Autonomie wurde trotzdem immer garantiert. In Georgien wurde zwar die Autonomie von Südossetien und Abchasien eingeschränkt, aber schwere Menschenrechtsverletzungen gegen Russen gab es dort nicht. Streng nach Gutachten würde also Kosovo für keinen dieser Fälle eine Präzedenz darstellen.
Bei der Krim ist es sogar so, dass es faktisch sowieso keine Unabhängigkeit ist, sondern ein Anschluss. Es ist egal, wie das Referendum genannt wurde, wenn nur wenige Tage danach die Krim an Russland angeschlossen wurde, dann war es ein Anschluss-Referendum, kein Unabhängigkeitsreferendum. Und in einem solchen Fall gilt die territoriale Integrität im „klassischen“, zwischenstaatlichen Sinn, also Staat A darf die Grenze von Staat B nicht überschreiten. Hier ist also ein weiterer markanter Unterschied zu Kosovo, denn Kosovo wurde nicht an Albanien angeschlossen, und wird es aufgrund eines Anschlussverbots in der Verfassung auch zukünftig nicht werden.
Des Weiteren gibt es im Fall der Krim noch eine spezielle Rechtsgrundlage, nämlich das Budapester Memorandum 1994. In diesem haben die USA, UK und Russland den Staaten Ukraine, Kasachstan, und Weißrussland ihre nationale Souveränität in ihren damaligen Grenzen garantiert, dafür, dass diese Staaten ihre Nuklearwaffen übergeben. Russland hat damit also quasi ein besonderes Bekenntnis zur territorialen Integrität abgegeben.
Die Annexion der Krim war also sowohl nach lex generalis, als auch lex specialis eindeutig ein Völkerrechtsbruch.
Natürlich muss die eigene Meinung mit dem Gutachten nicht übereinstimmen. Man kann auch sagen, die territoriale Integrität hat immer Vorrang. Aber das Gutachten orientiert sich eben an der Rechtspraxis des ausgehenden 19., des 20., und beginnenden 21. Jahrhunderts. Das soll heißen, wer findet, dass die Unabhängigkeit des Kosovo völkerrechtswidrig war, der findet, dass im Grunde 90% der modernen Staaten alle völkerrechtswidrig entstanden sind. Der gesamte Entkolonialsierungsprozess, wo Kolonien sich gegen die europäische Fremdbeherrschung aufgelehnt haben –> rechtswidrig, da die territoriale Integrität der Kolonialreiche verletzt wurde. Auch die Unabhängigkeit Serbiens selbst wäre dann völkerrechtswidrig, da es mit seiner einseitigen Ausrufung der Unabhängigkeit glasklar die territoriale Integrität des osmanischen Reiches verletzt hat. Laut dem Gutachten aber wäre es eindeutig, dass nach all den Gräueltaten an Serben durch osmanische Staatsbedienstete ein Weiterverbleib der Serben im osmanischen Reich nicht zumutbar gewesen wäre. Und so verhält es sich nun mal auch mit dem Kosovo. Wenn also die serbische Regierung oder ein Dr. Prof. Merkel meint, diese Staatsentstehung ist illegitim, dann würde es mich doch sehr interessieren, wie sie die Entstehung des serbischen Staates völkerrechtlich einordnen, sowie die Entstehung von 90% der modernen Staaten. Denn dann waren deren Unabhängigkeiten ebenfalls eindeutig völkerrrechtswidrig. Wenn wir also diese Denke ganz konsequent zu Ende denken: Mit wem müssen die kosovarischen Vertreter dann überhaupt über ihren Autonomiestatus verhandeln? Mit der Türkei, als Nachfolger des osmanischen Reiches? Mit Serbien jedenfalls nicht, denn dieses ist dann ebenfalls kein legitimer Staat.
Wenn man diese Rechtsauffassung teilt, dann stellt sich auch die Frage, inwiefern ist es für die Legitimität des Staates überhaupt relevant, ob die Art, wie er entstanden ist, völkerrechtswidrig war, oder nicht?
So, wurde mitten in diesem Beitrag gesperrt, wollte aber unbedingt mal Licht ins Dunkel bringen, da es absolut unerträglich gewesen ist, wie viel Stuss in diesem Thread geschrieben wurde (ausgerechnet Lalla ist die einzige, die im Grunde genommen Recht hatte mit ihren Argumenten
). Habe mir jetzt extra einen Fake angelegt, weil ich nicht zwei Wochen darauf warten wollte diesen Beitrag zu schreiben. Man kann mich dafür auch gerne dauerhaft dafür sperren, ich wollte dem Forum sowieso fernbleiben.
V.a. war mir hier das Leugnen von den Verbrechen an Albanern durch die User Dissention und Glupenica zu viel des Guten. V.a., wenn dann sogar angedeutet wird die Albaner hätten es verdient, weil sie IS-Blutrache-Mafiosis sind.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass jeder kosovo-albanische User in diesem Thread enge Familienmitglieder hat, die getötet wurden und/oder langjährige Haftstrafen unter grausamen Bedingungen hinter sich haben, denn es gibt kaum eine Familie, die von dem Terror nicht betroffen gewesen ist. Da kann man sich ja ungefähr vorstellen wie verhöhnend und verspottend es klingt, wenn man einem Kosovo-Albaner erzählt, dass das doch in den 80ern und 90ern alles halb so wild gewesen ist, oder, dass sie selbst schuld gewesen sind.
Da frage ich mich, wie das mit der Aussöhnung klappen soll. Man stelle sich mal vor, nach dem zweiten Weltkrieg hätte Deutschland versucht die Kriegsschuld auf alle Beteiligten gleichmäßig zu verteilen und die eigenen Verbrechen kleinzureden und zu leugnen. Unter solchen Umständen wäre aus der deutsch-französischen Erbfeindschaft sicherlich keine tiefe Freundschaft geworden.
Aber mit Usern wie Dissention und Glupenica zu diskutieren ist ja ohnehin, wie mit einer Taube Schach zu spielen: Sie schmeißt das Brett um, kackt auf den Tisch, und stolziert dann mit breiter Brust herum als habe sie gewonnen.