Material aus einer deutschen Uni
Charakterisierung eines Erdteils; hier Europas; Geographika 2, 5, 26 ]
Jetzt wollen wir auch die ['unser Meer', d. h. das Mittelmeer] umgebenden Länder beschreiben, indem wir dort anfangen, von wo ausgehend wir auch das Meer beschrieben. Fährt man durch die Meerange bei den Säulen Herakles nach Osten, so liegt Libyen [Nordafrika] zur Linken bis hin zum Nil; die Gegenküste Europas zur Linken reicht bis zum Tanais [Don]. Beide enden, wo Asien beginnt.
Wir beginnen mit Europa, weil es vielgestaltig und der für die kulturelle Vervollkommnung der Menschen und Bürger förderlichste Erdteil ist und den anderen Erdteilen das meiste seiner eigentümlichen Vorzüge mitgeteilt hat. Auch ist Europa fast ganz bewohnbar, sieht man von einem Landstrich ab, der wegen Kälte unbewohnbar ist und das Gebiet der Hamaxoiker oder Wagenbewohner in der Gegend um den Tanais [Don], die Maeotis [Asowsches Meer] und den Borysthenes [Dnjepr] begrenzt. Das bewohnbare Land ist, wo es kalt und gebirgig ist, zwar von Natur aus nur in kümmerlicher Weise besiedelbar. Aber auch die ursprünglich schlecht bewohnbaren und von räuberischem Volk bewohnten Landstriche werden kulturell annehmbar, wenn sich fleißige Bewohner dort ansiedeln. So war es bei den Hellenen. Obschon in einem Lande der Gebirge und Felsen wohnend, lebten sie dennoch in Wohlfahrt wegen ihres Interesses für politische Organisation, Wissenschaft, Kunst und sonstige nützliche Fertigkeiten der Lebensgestaltung. So war es auch bei den Römern. Nachdem sie viele Völker unterworfen hatten, die in von Natur aus rauhen, hafenlosen, kalten oder sonst schwerbewohnbaren Ländern lebten und entsprechend unkultiviert waren, brachten sie diejenigen, die bisher voneinander isoliert waren, miteinander in Verkehr und lehrten auch die wilderen Völkerschaften Kultur. Soweit Europa aber eher flach und warm ist, hat es die Natur für solche Verbesserungen der Lebensbedingungen auf seiner Seite. Da nun in den begünstigten Landstrichen alles friedlich ist, in den unfruchtbaren dagegen eher Kriegertum und Wehrhaftigkeit vorherrschen, haben beide Menschenarten voneinander ihren Nutzen; die einen leisten ihren Beitrag durch Waffendienst, die anderen durch Landwirtschaft, Künste und Sittenbildung. Wenn sie sich nicht gegenseitig unterstützen, hat das andererseits für beide Seiten Nachteil; denn dann ist die Gewalt Bewaffneter im Vorteil, weil sie nicht durch eine [friedliche] Mehrheit bestimmt wird . Aber insoweit steht es in Europa günstig; denn überall ist dieser Weltteil von Ebenen ebenso wie von Gebirgen durchzogen, so daß fast überall Landbauern und Stadtbürger dicht neben kriegerischen Menschen leben; die erste Art aber bildet überall die Mehrzahl. sodaß sie auch tatsächlich bestimmend bleibt.
So haben es die herrschenden Völker [dieses Erdteisl], früher die Griechen, später die Makedonenen und die Römer gehalten. Daher genügt sich Europa selbst, sowohl im Frieden als auch im Krieg; denn es hat sowohl streitbare Mannschaft als auch Landbewohner und Stadtbürger in Fülle zur Verfügung. Es ist ferner auch dadurch besonders begünstigt, daß es alle lebenswichtigen Früchte in bester Qualität und ebenso alle nützlichen metallischen Rohstoffe selbst hervorbringt. Nur Wohlgerüche und konstbare Steine werden von auswärts importiert, Dinge, von deren reichlichem oder spärlichem Vorhandensein das Leben nicht abhängt. Im Überfluß vorhanden sind auch alle Arten von Haustieren. Wildtiere gibt es dagagen seltener. So beschaffen ist dieser Erdteil also, allgemein nach seiner Natur charakterisiert.
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