Die Grünen müssen wegen ihres Eintritts in eine Bundesregierung mit der Kurz-ÖVP derzeit manch kritische Bemerkung erdulden. Die lauteste Kritik kommt von jenen, die einst auch die lautesten Kritiker der freiheitlichen Regierungsbeteiligung waren. Das ist einigermaßen erstaunlich. Denn: Wären die Grünen nicht unter Inkaufnahme manch bitteren Kompromisses bereit gewesen, eine Regierung mit der ÖVP zu wagen, hätte Österreich mit größter Wahrscheinlichkeit eine Fortsetzung der alten türkis-blauen Koalition erlebt. Die Grünen werden also - vor allem von der SPÖ und von einem Teil ihrer eigenen Sympathisantenszene - dafür gescholten, dass sie Kickl & Co. von der Regierung ferngehalten haben.
Erstaunlich. Man könnte auch sagen: heuchlerisch. Da wurde bereits zu einer Zeit über eine "türkise Alleinregierung mit grünem Anstrich" gehöhnt, als das Regierungsprogramm noch überhaupt nicht bekannt war. Da mussten sich die Grünen nachsagen lassen, dass der im Regierungsprogramm verankerte Kampf gegen den politischen Islam und das Kopftuchverbot für junge Mädchen "ausländerfeindlich" seien. Da wird in sozialen Netzen über den Umstand gespottet, dass die ökosoziale Steuerreform nicht bereits während der Regierungsverhandlungen herbeigezaubert, sondern einer "Taskforce" übertragen wurde. Da wurde jeglicher Kompromiss, der mit der ÖVP eingegangen wurde, diskreditiert, als hätten die Grünen ihre Seele verkauft.
Man muss den Grünen wünschen, dass die Delegierten des grünen Bundeskongresses, der heute in Salzburg endgültig über den Eintritt in die Bundesregierung entscheidet, über mehr Fairness und Sachverstand verfügen als besagte Kritiker. Es sei in Erinnerung gerufen, dass die ÖVP bei der Nationalratswahl am 29. September des vergangenen Jahres 37,5 Prozent der Stimmen erhalten hat, die Grünen hingegen nur 13,9. Wer daher den Grünen nun vorwirft, dass sie es verabsäumt haben, mit ihren knapp 14 Prozent der Stimmen 100 Prozent des Regierungsprogramms zu diktieren, ist entweder grenzenlos unsachlich oder grenzenlos unfair.
(Tlw. zitiert Leitartikel SN 04.01.2020/Andreas Koller)
Wir haben verlernt, mit Kompromissen zu leben!