Europas nächster Krisenstaat
Die Stimme des jungen Mannes zittert noch immer, wenn er von dem Angriff der schwerbewaffneten Spezialtruppen berichtet. Dshemaledin Azemi, 24, lebt mit seiner Familie in der nordmazedonischen Stadt Kumanovo. Am Morgen des 9. Mai hörte er Schüsse, kurz darauf geriet auch das Gebäude unter Feuer, in dem er mit seiner Familie wohnt. "13 Stunden hat der Angriff gedauert, wir haben uns die ganze Zeit im Haus versteckt", erzählt Azemi. "Ich habe keine Ahnung, warum sie das getan haben", sagt er, "wir sind doch keine Terroristen!"
Polizei und Armee durchsuchen an jenem Tag ein von Albanern bewohntes Viertel der 70.000-Einwohner-Stadt Kumanovo nach mutmaßlichen albanischen Terroristen, die angeblich Attentate planen. Die Lage eskaliert. Bei Feuergefechten, die bis zum nächsten Tag dauern, sterben zahlreiche Menschen, Dutzende Häuser werden zerstört.
Am Ende bleiben vor allem Fragen: Wie viele Menschen starben, wer sind die Toten, wer die angeblichen Terroristen? Und: Hat die Regierung des rechtsnationalistischen Ministerpräsidenten Nikola Gruevski den Anti-Terror-Einsatz inszeniert, um von der wachsenden Unzufriedenheit im Land abzulenken?
Fest steht: Seit den Kämpfen in Kumanovo befindet sich Mazedonien auf dem Höhepunkt einer bereits länger andauernden schweren Staatskrise. Unter der Herrschaft von Gruevski, der seit 2006 regiert, ist Mazedonien in diktatorische und mafiöse Verhältnisse abgeglitten. "Die Grenze zwischen Regierung und organisierter Kriminalität ist in Mazedonien - wie in den meisten Ländern der Region - fließend, Rechtsbruch und Kriminalität gehen direkt aus dem Staat hervor", sagt der Balkan-Experte Dusan Reljic von der "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP) in Berlin.
Am vergangenen Sonntag demonstrierten in der mazedonischen Hauptstadt deshalb Zehntausende Menschen gegen die Regierung von Gruevski und verlangten ihren Rücktritt, einige hundert Menschen belagern seitdem das Regierungsgebäude. Der Regierungschef wiederum ließ am Anfang dieser Woche seinerseits Zehntausende Menschen in die Hauptstadt bringen, die Sympathie für ihn bekunden sollten. Schon steht das Szenario eines neuen Bürgerkrieges auf dem Westbalkan im Raum. "Gruevski ist völlig abgekoppelt von der Realität, und er hat alle Mittel in der Hand, um einen schlimmen Konflikt zu provozieren", sagt der mazedonische Menschenrechtsaktivist Xhabir Deralla, der die Nicht-Regierungsorganisation "Civil - Zentrum für Freiheit" leitet.
Diktatorisch-mafiöse Verhältnisse
Dabei war Mazedonien einst das Musterland auf dem Westbalkan und die einzige jugoslawische Teilrepublik, die den Staatszerfall 1991 ohne Krieg bewältigte. 2001 kam es zwar zu mehrmonatigen Kämpfen zwischen der Armee und albanischen Milizen. Aber der Konflikt wurde unter Vermittlung der EU im August 2001 mit dem Ohrid-Abkommen befriedet - die mazedonischen Albaner, die ein Viertel der zwei Millionen Einwohner im Land ausmachen, erhielten die Zusage besserer Minderheitenrechte. An deren Umsetzung hapert es jedoch bis heute, lokal kommt es immer wieder zu ethnischen Auseinandersetzungen: rassistische Schmierereien, gewalttätige Übergriffe, Brandanschläge.
Immerhin schon seit 2005 ist Mazedonien EU-Beitrittskandidat, doch Verhandlungen konnte es wegen eines absurden Namensstreits bisher nicht aufnehmen: Griechenland spricht seinem nördlichen Nachbarn das Recht auf die Benutzung des Namens "Mazedonien" ab und blockiert deswegen die Aufnahme in die Nato und den Beginn von EU-Beitrittsgesprächen. Diese Blockadehaltung sehen viele Beobachter als mitverantwortlich dafür an, dass Mazedonien in den vergangenen Jahren in diktatorisch-mafiöse Verhältnisse abglitt.
Vor allem seit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom April vergangenen Jahres eskalierte die politische Situation im Land. Damals erhielt Gruevskis rechtnationalistische Partei VMRO-DPMNE eine Mehrheit, allerdings kam es zu zahlreichen Unregelmäßigkeiten, wie Wahlbeobachter der OSZE bemängelten. Die oppositionellen Sozialdemokraten (SDSM) boykottieren die Parlamentsarbeit seither.
Orbánisierung der politischen Systeme
Im Februar 2015 kam das ganze Ausmaß des Machtmissbrauchs unter Gruevski ans Tageslicht, als der sozialdemokratische Oppositionsführer Zoran Zaev Aufnahmen von abgehörten Telefonaten veröffentlichte, die ihm zugespielt worden waren. Aus den Gesprächen, deren Authentizität die Regierung nicht bestreitet, geht hervor, wie Gruevski und seine engsten Vertrauten ihrerseits die politische Elite flächendeckend abhören ließen, die Medien steuerten, die Inhaftierung von Kritikern planten und Korruptionsaffären vertuschten. Zugleich allerdings haftet dem Oppositionsführer Zaev und seinen Sozialdemokraten selbst der Ruf an, zutiefst korrupt zu sein.
In Mazedonien wie in ganz Südosteuropa habe in den vergangenen Jahren nach dem Vorbild des ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán eine "Orbánisierung der politischen Systeme" stattgefunden, sagt Balkan-Experte Dusan Reljic. Die wirtschaftliche Entwicklung in der Region stehe still, zugleich sei die EU erweiterungsmüde. Deshalb gebe es in Südosteuropa einen immer "heftigeren Kampf um staatliche Ressourcen mit immer mehr Rechtsbeugung und immer weniger Demokratie". Reljic plädiert für ein neues, starkes Engagement der EU auf dem Westbalkan, vor allem müssten Armut und Perspektivlosigkeit bekämpft werden. "Wenn die EU-Perspektive für diese Länder wegbricht, springen andere ein, so wie wir es jetzt gerade erleben, Russland, die Türkei und islamistische Kräfte, und das sind keine erfreulichen Optionen."
Auch Dshemaledin Azemi wünscht sich eine Perspektive. In seiner Familie sind fast alle arbeitslos, nur sein Vater ist bei einem Bestattungsunternehmen beschäftigt und verdient umgerechnet 150 Euro im Monat, wovon sechs Menschen leben müssen. So ergeht es vielen in Mazedonien - die Arbeitslosenquote liegt bei 30 Prozent, vor allem viele Albaner und Roma sind bettelarm.
Für Politik interessiert sich Azemi nicht - oder jedenfalls will er seine Meinung zur Staatskrise in Mazedonien nicht sagen. "Keine Ahnung, keine Ahnung", ruft er immer wieder bei Nachfragen, "ich möchte nur arbeiten und normal leben."