Michael Martens von der FAZ:
Einige Gedanken zu dem jüngsten Blutvergießen im Kosovo.
Als Jugoslawien in den 1990er Jahren gewaltsam zerfiel, spielte Serbien ein zynisches Spiel: Während von Belgrad finanzierte und in die Schlacht geschickte Truppen in Kroatien und Bosnien plünderten, mordeten und eroberten, tat der serbische Präsident Slobodan Milošević so, als hätte er nichts damit zu tun.
Milošević behauptete, Serbien sei nicht in die Kämpfe verwickelt. Er bezeichnete sie als einen Konflikt zwischen lokalen Serben in Kroatien (oder Bosnien) und den Regierungen in Zagreb und Sarajewo. Das war eine eklatante Lüge, gegen die sich im Westen jedoch kaum jemand aussprach.
Man zog es vor, Milošević als Verhandlungspartner zu sehen. Putin kopierte 2014 erfolgreich Miloševićs Methode auf der Krim: Seine "kleinen grünen Männer" waren Spezialeinheiten der russischen Armee ohne Hoheitszeichen auf ihren Uniformen.
Offiziell behauptete der Kreml, er wisse nichts über diese Truppen. Heute, wo diese alte Lüge nicht mehr nötig ist, brüstet sich Moskau damit, dass seine kleinen grünen Männchen die Krim besetzt haben. Die Lüge von gestern ist zur Heldentat von heute geworden.
Etwas Ähnliches geschieht seit Jahren auf dem Balkan. Es ist zwar noch nicht ganz klar, ob das jüngste Blutvergießen eine außer Kontrolle geratene Provokation Belgrads war und was der Zweck dieser Aktion war, aber eines ist sicher:
Gewöhnliche Bürger im Norden des Kosovo verfügen nicht über gepanzerte Fahrzeuge oder Handgranaten. Die bewaffnete Gruppe, die einen Polizisten erschossen und dann ein Kloster besetzt hat, ist Teil einer Strategie, die von Belgrad ausgerüstet und unterstützt wird.
Wenn der serbische Präsident Alexander Vučić nun behauptet, er habe nichts davon gewusst, muss man schon sehr naiv sein, um ihm zu glauben. Denn auch wenn er über diese konkrete Aktion nicht informiert gewesen sein mag, die Strategie der Bewaffnung der Paramilitärs ist seine.
Daran erinnert er sich noch aus den 90er Jahren. Vučić wendet die Methode seiner Lehrer Milošević und Putin an: Gewalt wird systematisch gefördert, aber an Subunternehmer outgesourct. Gleichzeitig tut man auf der europäischen Bühne besorgt und gibt vor, gesprächs- und verhandlungsbereit zu sein.
Diese vermeintliche Verhandlungsbereitschaft ist aber nur eine Nebelkerze. Ihr Ziel ist es, Zeit zu gewinnen. Das eigentliche Ziel ist die Kontrolle über das Territorium. (Und die Hoffnung, dass Trump in den USA zurückkommt, damit man offen verfolgen kann, was man jetzt noch zu verbergen hat).
Im Nachhinein sehen die westlichen Politiker, die Miloševićs Lügen vor 30 Jahren glaubten, bestenfalls lächerlich aus.
Politiker, die heute glauben oder vorgeben zu glauben, dass Vučić ein Mann ist, dessen Wort man vertrauen kann, könnten in 10 Jahren ähnlich beurteilt werden.
Möchten sie als eine weitere Generation naiver westlicher Narren in die Geschichte eingehen, die von einem hochintelligenten serbischen Präsidenten überlistet wird, der das Spiel viel schneller und besser spielt als sie?
Belgrad spielt ein zynisches Spiel im Kosovo. Es ist Zeit, dieses Spiel zu erkennen. Nicht nur im Nachhinein, wenn es zu spät ist, wie bei Milošević und Putin, sondern jetzt. Die Fakten zu verzerren ist Mr. Vučićs Spiel. Niemand zwingt die EU oder Berlin, mitzuspielen.
Also, was jetzt? Eine erste Idee wäre, die Ereignisse im Norden international untersuchen zu lassen.
Eine zweite Idee wäre, die einfrierenden EU-Beitrittsverhandlungen mit Serbien anzukündigen, sollten sich solche Ereignisse wiederholen. (Auch wenn das nicht viel ändern würde, denn diese Gespräche sind sowieso eine Farce. Aber hier geht es auch um Nachrichten.)
Plus: Der EU-vermittelte Dialog zwischen Serbien und dem Kosovo in seiner derzeitigen Form ist ein totes Pferd, und der EU-Vermittler Miroslav Lajčák weiß das. Weder der Kosovo noch Serbien werden motiviert sein, mit dieser Art von Dialog eine Lösung zu finden.
Die EU sollte anfangen, einen Spaten einen Spaten und eine Farce eine Farce zu nennen. Serben im Kosovo haben Beschwerden gegen die Regierung in Prishtina und die Kosovo-Polizei gerechtfertigt (wie auch die Kosovo-Albaner). Aber Herr Vučićs Rede über "ethnische Säuberung" sollte als das abgetan werden, was es ist: Müll.
Der Westen war naiv oder zynisch genug, um von Milošević in den neunziger Jahren und gerade jetzt von Putin getäuscht zu werden. Wenn es sich erlaubt, sich ein drittes Mal täuschen zu lassen, jetzt von Herrn Vučić, hat es vielleicht kein Besseres verdient.