Russland braucht Liberale in der Politik, aber keine vom Ausland gelenkten Straßenproteste
Glenn Diesen, Professor an der Universität von Südostnorwegen und Herausgeber der Zeitschrift Russia in Global Affairs.
Übersetzung aus dem Englischen
Die Saga um Alexei Nawalny ist ein Wendepunkt für die liberale Opposition in Russland, weil wieder einmal der Versuch vom politischen Aktivismus zur politischen Macht gescheitert ist. Das sollte den Anhängern Nawalnys Anlass zum Überdenken ihrer Strategien sein.
Revolutionäres Russland
Russlands turbulente Geschichte wurde weitgehend durch den revolutionären Wandel bestimmt. Das vergangene Jahrtausend war fragmentiert in viele Perioden unterteilt – von der Kiewer Rus, dem mongolischen Staat, dem Moskauer Russland, der Kulturrevolution von Peter dem Großen, den großen Reformen nach dem Krimkrieg, dem demokratischen Wandel von 1905, der bolschewistischen Revolution von 1917 und dem Erfolg der Liberalen im Jahr 1991.
Die fragmentierte Geschichte war disruptiv und zerstörerisch, da jede Periode einen Bruch mit der vorangegangenen vollzog. Das bleibende Erbe waren konkurrierende Visionen für die Zukunft Russlands sowie die Abhängigkeit von autoritärer Regierungsführung als Garant der Stabilität.
Revolutionärer Wandel wird definiert, indem ein bestehendes System entwurzelt wird, um etwas völlig anderem Platz zu machen. Revolutionäre ergreifen die Macht, indem sie eine utopische Zukunftsvision feilbieten, in der die Freiheit der Menschen verankert sei. Auf Revolutionen folgen jedoch üblicherweise wieder Autoritarismus und Zwang, da die neue Macht nicht auf dem Konsens oder einer Legitimität in der Vergangenheit ruht.
Liberale Revolutionäre
Durch den Aufstand der Dekabristen im Jahr 1825 wurde der Liberalismus auch in Russland als revolutionärer Wandel eingeführt, der darauf abzielte, die Regierung zu stürzen, um aus Frankreich importierte politische und gesellschaftliche Ideen durchzusetzen. Das Ereignis brachte die russischen Liberalen auf einen radikalen Weg und veranlasste Zar Nikolaus, darauf zu reagieren, indem er die Revolutionäre niedermachte und die Autokratie noch verstärkte. Für die nächsten zwei Jahrhunderte stand der zentralisierten Macht nicht etwa die liberale Demokratie, sondern drohende Anarchie als Gegenentwurf gegenüber.
Die demokratische Revolution von 1905 hatte ein schwaches Fundament, da sich die Demokratie nicht ansatzweise entwickelt hatte und die Schnelligkeit der Veränderungen ihr keine tiefe Verwurzelung in der politischen Kultur ermöglichte. Freiheiten wurden mittels Federstrich verteilt – und ebenso leicht wieder gestrichen, als die Bolschewiki ein Jahrzehnt später die Macht übernahmen, indem sie die daraus resultierende Instabilität ausnutzten.
Demokratie ist unabdingbar, um eine friedliche Machtübertragung zu fördern und einen schrittweisen Wandel sicherzustellen. Im Gegensatz dazu ist das Konzept einer "demokratischen Revolution" insofern paradox, als es die undemokratische Machtergreifung einer Fraktion ohne demokratische Rechenschaftspflicht zur Folge hat.
Bestehende soziale Strukturen zu zerstören, ohne sie durch tragfähige Alternativen zu ersetzen, ist die Definition von Anarchie, die dann die Möglichkeit entweder des Zusammenbruchs zulässt – oder des Autoritarismus, um die Kontrolle wiederherzustellen. Somit tragen die Liberalen Mitschuld an der Spaltung zwischen zentraler Kontrolle und Anarchie, weil sie darin versagen, ihren revolutionären Ursprung abzulegen.
Politische Opposition stürzt häufig in Meinungsumfragen ab, sobald sie die Regierungsmacht innehat, weil jede Kritik am Status quo auch von Lösungsvorschlägen begleitet sein muss. Dies gilt umso mehr für russische Liberale, die ihre Energie im Allgemeinen auf Straßenproteste konzentrieren. Proteste sind eine legitime Form demokratischer Beteiligung, um die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen, doch es gibt praktisch keine Rechenschaftspflicht für Protestierende, die gar keine wirklichen Lösungen für komplexe Probleme zu bieten haben. Dies bedeutet, dass russische Liberale sich von den revolutionären Straßenprotesten abwenden und sich der russischen Politik widmen sollten, wozu auch die Akzeptanz einer Rechenschaftspflicht gehört.
Ausländische Unterstützer: Fördern sie Liberalismus oder Subversion?
Russische Liberale haben eine lange Tradition darin, sich westliche Mächte als Verbündete zu suchen. Dies macht Russland allerdings höchst verwundbar gegenüber Mächten, die sich als "Humanisten" präsentieren und vorgeben, niemals gegen andere Länder zu kämpfen, sondern einzig gegen deren Staatsführung – zwecks angeblicher Unterstützung der unterdrückten Bevölkerung.
Ein bestehendes System niederzureißen, ohne es durch etwas Existenzfähiges zu ersetzen, ist eine heimtückische Vorgehensweise für eine politische Opposition, aber stets eine durchaus vernünftige Strategie für ausländische Mächte – auch für die, die eine Schwächung Russlands anstreben.
Natürlich ist sich die breite Masse der Bürger dessen bewusst, was zugleich bedeutet, dass russische Liberale, wenn sie eine sichtbar starke Unterstützung aus dem Westen erhalten, damit auch ihre innerstaatliche Anziehungskraft verlieren.
Es ist nicht kontrovers, wenn man argumentiert, dass die USA – wie jede andere Macht auch – ihre strategischen Interessen in erster Linie durch Macht und nicht durch die Förderung von "Werten" definieren. Beispielsweise veröffentlichte die "
RAND Corporation" – eine führende US-amerikanische Denkfabrik, die seit den 1940er Jahren eng mit den US-Geheimdiensten verbunden ist – 2019 ihr Strategiepapier "Über Russland hinaus" (Extending Russia), in dem darüber nachgedacht wird, wie Russland und seine Nachbarschaft destabilisiert werden könnten.
Das Dokument enthält explizite Strategien zur Verhinderung von Energieexporten nach Europa, zur Eskalation des Sanktionsregime, zur Förderung der Talentabwanderung aus Russland, zur Militarisierung des Konflikts mit der Ukraine, zur Unterstützung syrischer "Rebellen", zur Förderung des Regimewechsels in Belarus, zur "Ausnutzung von Spannungen" im Südkaukasus, zur Eindämmung des russischen Einflusses in Zentralasien sowie zur indirekten Unterstützung für Nawalny und andere inländische politische Akteure, die die Legitimität der russischen Regierung untergraben und Russland destabilisieren.
Bemerkenswert ist, dass in all diesen Strategien – im Hinblick auf den Wettbewerb um die globale Vormachtstellung – stets die Niederlage des Gegners festgeschrieben ist, aber vordergründig das Papier in der Sprache der Menschenrechte und der Demokratie verfasst ist. Man fragt sich: Wen glauben die, hinters Licht führen zu können?
Nawalny: Vom Anti-Korruptions-Blogger zum Streben nach politischer Macht
Der Fall Nawalny veranschaulicht einen gescheiterten Übergang vom politischen Aktionismus hin zum Streben nach politischer Macht. Der populistische Anführer der Protestbewegung begann als Dissident und Anti-Korruptions-Blogger, der sich für eine Rechenschaftspflicht der Regierung einsetzte.
Zuerst schien er auf schrittweise Veränderungen zu drängen, was ihm eine angemessene Popularität einbrachte – insbesondere in Moskau, seiner Heimatstadt. Da Nawalny jedoch nach politischer Macht durch revolutionären Wandel strebte, wurde er ein wichtiges Instrument für Washington, was jedoch für den größten Teil der russischen Bevölkerung höchst unattraktiv ist.
Die simple Saga des gütigen Protagonisten, der versucht, einen Bösewicht zu stürzen, mag zwar immer noch eine bestimmte Anzahl Menschen mobilisieren, entblößt jedoch eine revolutionäre Herangehensweise an die Politik, die weder liberal noch demokratisch ist – und vor allem keine Lösungen anbietet.
Die bedingungslose Unterstützung durch das westliche politisch-mediale Establishment, das de facto eine Präsidentschaftskampagne für Nawalny durchführte, sollte ihm helfen, die Bevölkerung zu mobilisieren, ohne für seine Behauptungen und Anschuldigungen verantwortlich zu sein oder alternativen Lösungen zu bieten. Beispielsweise wurde sein "neuestes" Video über Putins angeblichen Palast am Schwarzen Meer bereits vor einem Jahrzehnt von der
Financial Times entlarvt.
Diesmal widmeten die westlichen Medien ihre Berichterstattung jedoch überwiegend der Anzahl der Abrufe bei YouTube und dem möglichen Schaden für Putin, anstatt die schwachen Fundamente der erhobenen Vorwürfe zu untersuchen. Die nachfolgenden Demonstrationen werden nicht im Hinblick ihrer Aussicht auf Reformen bewertet, sondern die Medien verlieren sich bereits in Träumereien von einem Regimewechsel.
Seit Januar dieses Jahres hat der britische
Guardian nicht weniger als 78 Artikel und Videos über Alexei Nawalny und gerade einmal 16 über Julian Assange veröffentlicht. Das ist eine höchst seltsame Verteilung der Berichterstattung für eine britische Zeitung, da einerseits Assange in Großbritannien selbst wegen seines Enthüllungs-Journalismus inhaftiert ist, Nawalny dagegen ein ausländischer Aktivist in einem weit entfernten Staat ist.
Die westlichen Medien förderten die Demonstrationen am 21. April mit leidenschaftlichen Artikeln über Nawalny. Was Journalisten als die größte postsowjetische Demonstration in Russland beworben hatten, die womöglich sogar Putin stürzen könnte, wurde zum Flop. Es scheint nun, dass Nawalny vor der Demonstration tatsächlich medizinische Hilfe von seinem Arzt erhalten hat, es jedoch versäumt hat, seine Anhänger zu informieren, als er aus dem Gefängnis twitterte.
Auch hier ist offenbar keine Rechenschaftspflicht erforderlich, wenn nur möglichst viele Unterstützer mobilisiert werden sollen – und niemand in der westlichen Presse hat dieses Verhalten in Frage gestellt.
Eine nichtrevolutionäre liberale Bewegung
Russische Liberale werden gebraucht – als Bestandteil eines lebendigen politischen Systems in Russland, das sich erneuern und durch allmählichen Wandel anpassen kann. Dies erfordert die Ablehnung von revolutionärer Politik, die Entkopplung von ausländischen Mächten und die Entwicklung der Rechenschaftspflicht für echte Lösungen komplexer Probleme.
Die Saga um Alexei Nawalny ist ein Wendepunkt für die liberale Opposition in Russland, weil wieder einmal der Versuch vom politischen Aktivismus zur politischen Macht gescheitert ist. Das sollte den Anhängern Nawalnys Anlass zum Überdenken ihrer Strategien sein.
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