Griechen gehen mit 56 in Rente, Deutsche mit 64: So behaupten es deutsche Medien und Politiker. Das ist schlicht unwahr. Über die Bedeutung von Renten in einem Land, in dem die Armen nicht einen Cent Sozialhilfe bekommen.
Ist es denn zu glauben? Da steht ein Land vor dem Bankrott. Doch statt die Hilfe der starken Partner (und deren Bedingungen) dankbar anzunehmen, will es nicht einmal die krassesten Auswüchse sozialer Wohltaten kappen. Und so verabschieden sich seine Einwohner weiter von Mitte 50 an in die üppig ausgestattete Rente. Die braven Bürger der Partnerländer hingegen müssen sich noch fast zehn weitere Jahre schinden - um jene Steuern zu erwirtschaften, die dann ins Pleiteland transferiert und an dessen Luxusrentner ausbezahlt werden.
Ungefähr so geht die Erzählung, mit der deutsche Medien und Politiker die dramatischen Verhandlungen zwischen Griechenland und seinen Geldgebern begleiten: "Bild" und "Frankfurter Allgemeine Zeitung" zitierten vergangene Woche eine Statistik, wonach die Griechen im Schnitt mit 56 Jahren in Rente gehen, die Deutschen hingegen mit 64.
Der CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach sprach bei "Günther Jauch" vor fünf Millionen Zuschauern: "Der griechische Ministerpräsident hat jetzt angeboten, das reale Renteneintrittsalter in Griechenland, das bei uns bei fast 64 Jahren liegt, auf 56 Jahre anzuheben."
Das Problem an der Erzählung ist nur: Sie ist schlicht und einfach falsch. Griechen gehen nicht früher in den Ruhestand als Deutsche, von Luxusrenten kann keine Rede sein. (Eine Faktensammlung dazu finden Sie am Ende dieses Artikels.) Vor allem aber blendet diese Darstellung einen Aspekt vollkommen aus, der verständlich macht, weshalb Kürzungen im Rentensystem in Griechenland weitaus heikler sind, als sie es etwa in Deutschland wären:
Das Rentensystem besitzt dort die Funktion einer Art Ersatz-Sozialhilfe. Viele Familien kämen ohne die Rente der Großeltern nicht über die Runden,
wie der englische "Guardian" feststellt. Dieser Fakt macht aus einer falschen Erzählung eine perfide Mär.
[...]
Zu den
Fakten:
Medienkritiker wie
Stefan Niggemeier und
"Bildblog" haben ebenso wie "Tagesspiegel" oder
Deutschlandfunk darauf hingewiesen, dass die von "Bild" und Co. zitierte griechische Statistik selbst das angebliche durchschnittliche Renteneintrittsalter von 56 Jahren widerlegt: Die Zahl bezieht sich dort ausschließlich auf Beschäftigte im öffentlichen Dienst. Gleichzeitig liegt das Renteneintrittsalter in Deutschland nur für diejenigen bei durchschnittlich 64 Jahren, die aus Altersgründen in Rente gehen - alle anderen, etwa Erwerbsunfähige, zählen nicht dazu.
Laut der Industrieländerorganisation
OECD lag das tatsächliche durchschnittliche
Renteneintrittsalter in Griechenland über alle Eintrittsgründe und Berufsgruppen hinweg im Jahr 2011 bei
61,4 Jahren.
Ebenfalls 61,4 Jahre betrug
nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung im Jahr 2013 das tatsächliche durchschnittliche
Renteneintrittsalter in Deutschland.
Selbst im Detail liegt das durchschnittliche Ruhestandsalter in Griechenland und Deutschland nahe zusammen, etwa
im öffentlichen Dienst: Laut dem aktuellen Versorgungsbericht der Bundesregierung gingen Beamte bei Bahn oder Post 2010 im Schnitt mit 58 beziehungsweise 55 Jahren in Pension.
Dass Griechen im Schnitt im gleichen Alter in Rente gehen wie Deutsche, überrascht. Denn die
fehlende Sozialhilfe beeinflusst auch die Statistik: In Griechenland gehen viele ältere Arbeitslose deshalb in Frührente - und drücken damit den Altersschnitt des Renteneintritts. In Deutschland bekommen Menschen in vergleichbarer Situation Hartz IV, bis sie
in der Regel mit 63 in Rente gehen.
Auch der
Anteil der Ruheständler an der Gesamtbevölkerung liegt in Deutschland und Griechenland nicht weit auseinander. In Griechenland entsprechen die 2,65 Millionen Rentner 24,3 Prozent der Bevölkerung.
In Deutschland gibt es 19,4 Millionen Rentner und
1,6 Millionen Pensionäre - zusammengenommen ein Anteil von 26,0 Prozent. Zählt man die 740.000 über 55-jährigen Hartz-IV-Bezieher hinzu (die in Griechenland Rente beantragen müssten), erhöht sich der Anteil auf 26,9 Prozent.