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Osmanisches Reich: rassistisch oder tolerant

[h=1]Montaigne und die Osmanen[/h]Verfasst von Mustafa Armağan am 29. Dezember 2013. Veröffentlicht in Das Osmanische Reich (1299-1922)Der französische Humanist, Skeptiker und Moralphilosoph Michel Eyquem de Montaigne (1533-1592) war der Begründer der literarischen Kunstform des Essays - kurzer, geistreicher Abhandlungen und Denkversuche, in denen kulturelle oder gesellschaftliche Phänomene unter die Lupe genommen werden. Ein guter Essay zeichnet sich dadurch aus, dass seine Gedanken scharf formuliert sind, seine Form klar und sein Stil geschmeidig und natürlich ist. Er nähert sich seinem Thema, indem er vorurteilsfrei mit verschiedenen Perspektiven experimentiert und vor den Augen des Lesers kurz und knapp, verständlich und auf witzige Art und Weise verschiedene Gedankengänge entwickelt.Montaigne war ein Meister dieser Kunst und setzte mit seinem berühmten Hauptwerk Essais Maßstäbe. Montaigne war ein Freidenker. Er distanzierte sich ganz bewusst von der Wissenschaft und vertraute vor allem auf subjektive Erfahrung und Reflexion. Er schrieb mit entwaffnender Offenheit und bewies ein ums andere Mal eine glänzende Beobachtungsgabe. Eigenen Angaben zufolge verfasste er seine Essais - eine mehrbändige Sammlung von Essays, die er selbst auch als ‚Sammelsurium‘ bezeichnete - aus Langeweile. Er fühlte sich isoliert und kommunizierte lieber mit seinen anonymen Lesern als mit den Menschen in seinem Umfeld.Montaigne stammte aus einer entlegenen Bergregion in der Nähe der Alpen, die Frankreich von Italien trennten und damit auch von den noch frischen Einflüssen und Wirren der Renaissance abschotteten. Seine Zeit war geprägt von Reformation, Gegenreformation und Religionskriegen. Viele seiner Zeitgenossen durchlebten damals eine von Orientierungslosigkeit gezeichnete geistige Krise. Montaigne hingegen betrachtete Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus der Perspektive des ‚Denkers aus der Abgeschiedenheit‘. Das ließ ihn einerseits unvoreingenommen und vorurteilsfrei an die Dinge herangehen, machte ihn andererseits aber auch zu einem Einzelgänger und Individualisten. Wie unbeeinflusst er von den Strömungen und Werturteilen seiner Zeit war, zeigt sich ganz deutlich in seiner Haltung gegenüber dem Orient und den Osmanen, die im Europa des 16. Jahrhunderts ein extrem schlechtes Image hatten.[h=2]1. Die Osmanen in der europäischen Kultur[/h]Auch heute wird oft behauptet, es gebe unüberbrückbare Differenzen zwischen den europäischen und den osmanischen Gesellschaften und Kulturen. Man sieht Orient und Okzident als Gegner, die zu keiner Zeit gewillt waren und niemals gewillt sein werden, sich miteinander zu arrangieren. Doch die Vergangenheit erzählt eine andere Geschichte. Die Beziehungen zwischen diesen beiden Blöcken waren vielschichtiger und auch enger als lange Zeit angenommen. Tiefere Analysen haben zu Tage gefördert, dass sich bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Osmanischen Reich Spuren einer ‚modernen‘ Mentalität nachweisen lassen. Die Osmanen interessierten sich durchaus für die Entwicklungen in Europa. Historische Darstellungen lassen uns sogar vermuten, dass der Protestantismus sein Überleben der Unterstützung durch die Osmanen verdankt. Und auch von europäischer Seite war sehr wohl ein Interesse an den Osmanen vorhanden.Der französische Humanist und Orientalist Guillaume Postel (1510-1581) und sein Landsmann, der Jurist und Staatswissenschaftler Jean Bodin (1530-96), brachten ihre Bewunderung für den osmanischen Staat und seine Verwaltungsstruktur zum Ausdruck und bemühten sich, ihren Respekt in ihre politischen Theorien zu integrieren. Der französische Philosoph Voltaire schätzte Moral und Disziplin der Muslime und Osmanen. Der englische Dichter Lord Byron liebte Istanbul und die osmanische Zivilisation. Der französische Dichter Lamartine bekam von Sultan Abdulmecid zum Dank für sein Buch Eine Chronik der Türken ein Bauernhaus geschenkt. Der Vater des französischen Philosophen Jean Jacque Rousseau war Uhrmacher im Topkapi-Palast in Istanbul. Goethe lernte von den Baschkir-Türken, im Koran zu lesen und zu beten. Der italienische Philosoph Tommaso Campanella behauptete gar, der von ihm erdachte utopische ‚Sonnenstaat‘ sei in der Welt der Osmanen Realität geworden. Der Spanier Cervantes, ‚Vater‘ des berühmten Don Quijote, verlor im Kampf gegen die Osmanen einen Arm und schrieb seine Romane in Gefangenschaft in Algerien unter dem Einfluss von einheimischen Gelehrten. Der deutsche Philosoph Wilhelm von Leibniz präsentierte dem französischen König eine Abhandlung, in der er ausführlich darlegte, wie die Osmanen besiegt werden könnten.Insgesamt besaßen die Osmanen und das Osmanische Reich in der europäischen Öffentlichkeit jedoch einen sehr schlechten Ruf, nämlich den von Tyrannen bzw. einer Gewaltherrschaft, was nicht zuletzt auf das verzerrte Bild zurückzuführen war, das der Orientalismus vom Morgenland, vom Islam und insbesondere vom Osmanischen Reich zeichnete.[h=2]2. Montaigne[/h]Montaigne ließ sich von diesem Bild nicht abschrecken und von den herrschenden Vorurteilen nicht leiten. Zum Teil kannte er sie wohl auch gar nicht. Im ersten Satz seiner Essais versichert er seinen Lesern: „In dem Buch, das ich vorlege, will ich aufrichtig sein.“ Und tatsächlich überarbeitete und korrigierte er seine Essays jedes Mal, bevor eine neue Auflage erschien. Wenn er inzwischen neue Einsichten gewonnen hatte, hinterfragte er seine ursprünglich zu Papier gebrachten Gedanken. Er ergänzte sie und fügte auch ganz neue Essays an.[1]In der überarbeiteten und erweiterten Ausgabe seines Werkes von 1595 (erschienen erst nach seinem Tod) empfiehlt er den französischen Soldaten, deren Nachlässigkeit ihm im Bürgerkrieg negativ aufgefallen war, sich die türkischen Soldaten zum Vorbild zu nehmen:„Ihre Disziplin unterscheidet sich von unserer und ist ihr überlegen. In Kriegszeiten sind unsere Soldaten verantwortungsloser und nachlässiger als zu Friedenszeiten. Auf der anderen Seite sind türkische Soldaten gemäßigt und scheuen vor solchem Verhalten zurück, denn das Stehlen von den Armen wird zu Friedenszeiten mit einigen wenigen Peitschenhieben geahndet, in Kriegszeiten hingegen sehr hart bestraft. Auf das Entwenden eines Eis ohne dafür zu zahlen, stehen 50 Peitschenhiebe. Selbst Menschen, die die unbedeutendsten Dinge stehlen, welche weder den Hunger stillen noch irgendeinen anderen Wert besitzen, werden zum Tode verurteilt. Es überrascht mich zu lesen, dass kein Soldat von (Sultan) Selim bei der Eroberung von Damaskus im Rahmen des Feldzugs nach Ägypten irgendetwas aus den einzigartigen Gärten dieser Stadt unterschlagen hat - selbst in unbeobachteten Momenten nicht.“Montaigne machte sich die negative europäische Sichtweise der Osmanen nicht zu Eigen. Zwar blieb auch er nicht unbeeinflusst von der herrschenden Stimmung; aber dennoch betrachtete er das Osmanische Reich nicht als eine ‚typisch orientalische Tyrannenherrschaft‘, sondern widmete sich vielmehr auch differenziert den philanthropischen Aktivitäten der Türken in den Bereichen Flora und Fauna. So wusste er seinen Lesern zu berichten, dass die Türken auch wohltätige Stiftungen und sogar Krankenhäuser für Tiere unterhielten.Montaigne hielt die Osmanen den eigenen Despoten als Spiegel vor und bediente sich damit einer Methode, die nach ihm zahlreiche französische Intellektuelle (u.a. Montesquieu) kopierten. Er war sich der Macht der Gewohnheiten über die Menschen bewusst und unterstrich immer wieder, wie falsch und schädlich es sei, alles, was nicht den eigenen Sitten entspricht, als barbarisch zu bezeichnen. Er schätzte die Unterschiede zwischen den Menschen und versuchte, sie aufzuzeigen und zu analysieren. Der Gedanke, seine Mitmenschen müssten sein wie er, lag ihm fern. Er erkannte, dass man die Welt nicht mit europäischen Maßstäben messen durfte. Für ihn existierten mehrere Welten mit einem jeweils ganz eigenen Lebensstil nebeneinander.Mit dieser Überzeugung stand er jedoch in der westlichen Welt recht allein da, und so blieb ihm ein Platz in den Geschichtsbüchern der Philosophie des Westens lange Zeit verwehrt.[h=2]3. Montaigne und die Türken[/h]Der großartigen Studie von Dana Rouillard[2] verdanken wir die Erkenntnis, dass Montaigne den Orient mit den Türken, d.h. mit den Osmanen gleichsetzte. Es gelang ihm zu dokumentieren, dass Montaigne dem Osmanischen in seinem Werk nach und nach immer mehr Beachtung schenkte, dass er seine Gedanken auch zu den Osmanen immer wieder neu durchdachte und mit jeder neuen Auflage falsche Einschätzungen revidierte.Rouillard zeigte auf, dass Montaigne fest daran glaubte, erst dann abschließend über etwas urteilen zu können, wenn er gut genug darüber Bescheid wusste. Er wies außerdem nach, dass Montaigne seinen Weitblick und seine pluralistische Sichtweise in erster Linie den Osmanen verdankte. Wie Rouillard zu dieser überraschenden Feststellung gelangte? Indem er Montaignes Erkenntnisstand über die Osmanen analysierte. Vor der Erstveröffentlichung seiner Essais 1580 bezog Montaigne seine Informationen über die Türken offenbar lediglich aus der italienischen Geschichtsschreibung, und nicht aus Klassikern oder von Historikern wie Joinville oder Froissart. Der einzige Hinweis auf die Türken in der Ausgabe von 1580 besteht dann auch in der Information, dass sie ihr Essen liegend auf komfortablen Sofas einzunehmen pflegen und dass sie sich das Paradies als einen sinnlichen Ort vorstellen. Doch damals schon machte Montaignes Neugier an den Grenzen des westlichen Kulturkreises nicht Halt.Einigen Anmerkungen zur Ausgabe von 1582 ist zu entnehmen, dass Montaigne in der Zwischenzeit einen neuen Aufsatz in die Hand bekommen haben muss. Sein Interesse für die Osmanen ist offenbar endgültig geweckt. Diese Vermutung wird durch die dritte Auflage bestätigt. In einem polnischen Geschichtswerk stößt er auf detailliertere Berichte über die Welt der Osmanen; unter anderem auch auf ein Bild, das die Feierlichkeiten anlässlich der Beschneidung der Söhne von Murad III. zeigt. Diese Informationen regen ihn dazu an, sich mehr Gedanken über diese Welt, ihre Kostüme und ihre Bräuche zu machen. In der vierten Auflage, die kurz vor seinem Tod erscheint, erreicht sein Interesse an fremden Ländern einen Höhepunkt. Neben anderen Werken, die sich direkt oder indirekt mit der osmanischen Geschichte befassen, liest er die Referenzwerke von Halkokondil über die Gründung und den Aufstieg des Osmanischen Reiches und Postels Buch De la Republique des Turcs. (Postel, einen der wichtigsten Intellektuellen seiner Zeit, kannte er sogar persönlich.) In jener vierten und letzten von ihm selbst redigierten Auflage der Essais finden sich fast 50 Hinweise auf die Osmanen.[h=2]4. Die Türken - ein Volk von Kriegern[/h]Montaigne schenkte den theologischen Deutungen von Sieg und Niederlage der Christen gegen die Muslime keinen Glauben. Die Schlacht von Lepanto von 1571, die die Christen gewannen und anschließend tagelang feierten, kommentiert er beispielsweise ungewöhnlich nüchtern und mit nur wenigen Worten:„Unter dem Kommando von Don Juan d’Austria wurde in den vorangegangenen Monaten ein Seekrieg gegen die Türken gewonnen. Aber Gott war auch zufrieden damit, dass wir in der Vergangenheit etliche Male Zeugen eines gegenteiligen Ausgangs wurden.“Montaigne wünschte, dass seine Landsleute diesem Sieg nicht so große Beachtung schenkten, denn noch stand die türkische Armee. Er hatte erkannt, dass die Osmanen eine beträchtliche militärische Macht aufgebaut hatten, die seiner Ansicht nach vor allem auf dem Faktor Disziplin gründete. Diese Disziplin schreibt er nicht allein harten Strafandrohungen zu, sondern auch der traditionellen körperlichen Selbstbeherrschung und Mäßigung. Er betrachtete die Osmanen keineswegs als Barbaren. Sie wussten, wie sie ihren Verstand nutzen mussten und wie sie zu kämpfen hatten:„Um aufzuzeigen, in welchem Maße die türkischen Armeen intelligenter sind als unsere und sich auch vernünftiger benehmen, reicht es zu erklären, dass sie - neben anderen Tugenden - nur Wasser trinken und Reis und gesalzenes Fleisch essen. So kann jeder von ihnen Proviant für einen ganzen Monat mit sich tragen.“Montaigne nennt noch einen weiteren wichtigen Faktor für die Erfolge der Osmanen - die Tatsache nämlich, dass der Sultan das Oberkommando über die Armee nicht aus der Hand gab. Sultan Selim I. war der Ansicht, Siege, die ohne den Sultan an der Spitze errungen werden, seien keine vollwertigen Siege und schon gar nichts, auf das er stolz sein dürfe. Montaigne begeht andererseits aber nicht den Fehler, alle Sultane über einen Kamm zu scheren. Er war sich bewusst, dass jeder Sultan seine ganz bestimmten Eigenheiten besaß. Überraschenderweise verurteilt er Beyazid II. und Murad III. für ihre - so Montaigne - exzessive Sympathie zu den Naturwissenschaften. Damit hätten sie nicht nur versäumt, sich an die Spitze ihrer Armee zu stellen, sondern darüber hinaus dem Reich großen Schaden zugefügt. Generell spricht sich Montaigne dafür aus, dass Krieger sich von den schönen Künsten fern halten sollen. In seinem Essay ‚Über die Pedanterie‘ kritisiert er die Fehler und die Nutzlosigkeit einiger Wissenschaftler und erklärt kurzerhand alle Arten von Erziehung für wertlos; vor allem dann, wenn sie über die Kreise der Aristokratie hinaus gehen und auf die breite Öffentlichkeit zielen:„Beispiele zeigen uns, dass das Erlernen der Wissenschaften die Herzen nicht abhärtet oder auf den Kampf einstimmt. Nein es verweichlicht sie vielmehr. Der mächtigste Staat heute ist der der Türken. Und sie schätzen die Waffen und verachten die Kunst und die Wissenschaften.“Man möge Montaigne diese Fehleinschätzung nachsehen, denn zu seinen Lebzeiten waren in Europa noch keine Übersetzungen der osmanischen Diwan-Literatur erhältlich. Während aber seine Zeitgenossen diese falsche Einschätzung als Beweis für die Barbarei der Osmanen betrachteten, hielt Montaigne sie für essenziell und lebensnotwendig.In seinem Essay ‚Über die Tugend‘ erzählt Montaigne die Geschichte eines jungen Türken, der es wagte, im Krieg den ungarischen König Hunnyadi Janos herauszufordern, obwohl ihm jede Erfahrung fehlte. Als Sultan Murad den Jungen dazu befragte, verriet dieser ihm, er habe von einem Hasen gelernt, mutig zu sein. Das Schicksal habe diesen Hasen vor 40 seiner Pfeile bewahrt und ihm obendrein dann noch gestattet, einer Meute Hunde zu entwischen. Der Junge erkannte, dass Bogen und Schwert nur dann etwas ausrichten können, wenn das Schicksal es so will. Der Glaube an das Schicksal bzw. die Vorherbestimmung war bei den Türken weit verbreitet. Türkische Historiker bestätigen, dass sich viele türkische Soldaten sicher vor Gefahren wähnten, weil sie glaubten, bei ihrer Geburt sei ihnen eine feste Lebenszeit mit auf den Weg gegeben worden, die sie weder verlängern noch verkürzen könnten.Um die Erfolge der Türken im 16. Jahrhundert zu begründen, sammelte Montaigne nicht systematisch Informationen zu einem bestimmten Thema, sondern erzählte Anekdoten wie diese.[h=2]5. Die Moral der Osmanen und des Islams[/h]Montaigne war den Osmanen gegenüber objektiv. Das bewies er ein an vielen Stellen. Zwar sah er auch viele Aspekte der türkischen Gesellschaft kritisch, aber er ließ sich nie auf extreme Definitionen oder populistische Erklärungen ein. Der Türke war für ihn weder der Barbar noch der feurige Liebhaber. In mehreren Essays versuchte er, das Bild des grausamen Türken zurechtzurücken - wie etwa mit der bereits erwähnten Information, dass die Türken auch wohltätige Stiftungen und sogar Krankenhäuser für Tiere unterhielten.Der einzige Hinweis auf den Islam in der ersten Auflage des Buches betrifft die Himmel. Montaigne war ein Intellektueller, dessen Augen nicht durch religiöse Vorurteile geblendet waren. Und er scheute auch nicht davor zurück, einige extreme Äußerungsformen der Religion als Übertreibungen oder gar als Unfug zu charakterisieren. Selbst dort, wo er über den Aberglauben der Türken schreibt, tut er dies nicht, um auf diesem Wege das Christentum zu verteidigen. Nein, generell lehnt er jede Art von Aberglauben ab, verurteilt ihn als Fehlglauben. So bewahrt er sich auch in diesem Punkt seine Ausgewogenheit.Montaigne war ein frommer Katholik. Er beschäftigte sich nicht nur mit dem Islam, sondern auch mit dem Calvinismus und dem Protestantismus, der über die Alpen in sein Land gekommen war. Er kritisierte die Übersetzung der Bibel in andere Sprachen und lobte die Türken für ihren Respekt vor dem Original ihrer Heiligen Schrift. In einem exzellenten Beispiel für den Geist der Toleranz, der in seinem Werk weht, klagt Montaigne, die Osmanen hätten die Christen in ihren ureigenen Werten überflügelt:„Willst du es mit eigenen Augen sehen? Vergleiche unsere Traditionen und Sitten mit denen eines Heiden oder eines Muslims. [Du wirst sehen, dass unsere unter ihren angesiedelt sind]. Obwohl seine Lehren höherwertig sind, muss der Christ die Tatsache akzeptieren, dass die Muslime, die wir so sehr unterschätzen, ihm in Sachen Gerechtigkeit, Mitgefühl und Tugenden noch einiges beibringen können.“In einem späten Essay berichtet Montaigne von einem Briefwechsel zwischen Papst Pius II. und Sultan Mehmed dem Eroberer. Er erwähnt, dass Beyazid I. und Timur nie und von niemandem irgendwelche Geschenke annahmen. Wie stolz die Türken sind, veranschaulicht Montaigne am Beispiel von Hasan Agha, dem Führer der Janitscharen (der Elitetruppe der Infanterie), der es vorzog zu sterben, nachdem er von Sultan Mehmed gerügt worden war.[h=2]6. Was hat uns Montaigne heute noch zu sagen?[/h]Montaigne näherte sich den Dingen nicht systematisch, nicht bestimmten Prinzipien gehorchend. Er analysiert die Türken, indem er sie zuerst beobachtet und dann seine Schlüsse zieht. Dabei gilt sein Interesse immer dem Menschen, und nicht religiösen Doktrinen. War er deshalb kein gläubiger Mensch? Doch, natürlich, denn jemand, der sich für seinen katholischen Glauben einsetzt, darf sicherlich nicht als Ungläubiger bezeichnet werden. Was ich vielmehr sagen möchte, ist, dass er den Islam und die Osmanen nicht durch die Brille der damals populären Theologie und Religion sah. Auch wenn sich in seinen Essays einige fiktive und falsche Behauptungen finden, hat sich Montaigne sichtlich bemüht, seine Informationen aus vielen unterschiedlichen Quellen zu beziehen. Er unterwarf sich keiner Doktrin und besaß auch keine fixen Ideen, denen er unbedingt zum Durchbruch verhelfen wollte. Immer wieder kam er mit einer neuen Perspektive und neuen Interpretationen. Lange vor Nietzsche wusste er bereits, dass Informationen keineswegs immer Fakten darstellen. Montaigne zufolge gibt es nur Interpretationen und die Interpretationen dieser Interpretationen. Und so war ihm auch klar, dass die meisten Informationen in seinen eigenen Büchern zum Thema Osmanen lediglich Interpretationen waren.Genau dieser Punkt unterscheidet Montaigne von anderen Gelehrten seiner Zeit, und vielleicht hat ihn das auch so einsam gemacht. Er selbst führte seine Einsamkeit zwar auf seine Neigung zur Melancholie zurück, aber wer weiß, vielleicht war sie ja auch seiner eigenwilligen und unangepassten Art zu denken und wahrzunehmen geschuldet. Er lehnte es ab, sich mit den Interpretationen von Interpretationen zufrieden zu geben, versuchte stets, Informationen aus erster Hand zu erhalten, und half seinen Lesern dabei, sich eine eigene Meinung zu bilden. So enthielt er ihnen auch nicht vor, was in anderen Büchern über die Osmanen, ihre Geschichte, Kultur und Moralvorstellungen geschrieben stand. Aber er übernahm es nicht ungeprüft und bezeichnete es oft genug als Unsinn. Montaigne hatte das Gefühl, von einer Mauer aus Interpretationen umgeben zu sein, die ihn daran hinderten, die Stimme der Wahrheit zu vernehmen. Sein kritisches Selbst- und Weltverständnis mutet auch heute noch sehr modern an.Auch Montaigne gibt in seinen Essays Wertungen ab, weist sie aber als seine subjektiven Empfindungen aus. Er gesteht seinen Lesern, dass seine Erkenntnisfähigkeit begrenzt ist, und gibt gerne zu, dass er nicht auf jedem Gebiet Fachmann ist. Und mit diesem Eingeständnis kritisiert er zugleich die seinerzeit sehr verbreitete aufklärerische Besserwisserei.„Ich habe etwas gegen die Vernunft, die den Spaß verdirbt, gegen ihre übertriebenen Ansprüche, durch die das Leben vergewaltigt wird, dagegen, dass die Ansichten, wenn sie wahr sind, so spitzfindig dargestellt werden; die ‚Raison‘ ist zu unbequem, und ihr Nutzen zu teuer erkauft. Dagegen trete ich dafür ein, dass man den Wert sogar des Nichtigen und der Eseleien verstehen lernt, wenn sie mir Freude machen; ich lasse mich eben treiben, wohin mein natürlicher Hang mich führt; und diesem lege ich keine zu engen Beschränkungen auf.“So verabschiedet sich Montaigne von der Illusion der eigenen kulturellen Überlegenheit. Mit seinen Essais zeigt er, dass es keinen allgemein gültigen und einzig richtigen Weg im Leben gibt und dass jedes Individuum seinen eigenen zumindest suchen muss - was eine Kultur der Toleranz voraussetzt. Montaigne plädiert dafür, die Eigenarten der Menschen und Völker kennen zu lernen und sie als Bereicherung zu sehen. Das beweist gerade das Beispiel der Osmanen, in denen die Europäer des 16. Jahrhunderts meistens nichts anderes als Barbaren sahen. Sein Eintreten gegen Vorurteile und für eine kritische, aber doch optimistische Haltung besitzt auch heute noch Vorbildcharakter.Montaigne war ein Philosoph mit dem seltenen Talent, seinen Lesern Wissen zu vermitteln und sie dabei gleichzeitig zum Lachen zu bringen. Das Lesen seiner Essais möchte ich jedem ans Herz legen. Sie gehören für mich zu den größten Werken der Literaturgeschichte und sind für jeden Interessierten eine Fundgrube der Lebensphilosophie. Die Fülle der nützlichen Informationen und Weisheiten ist beinahe endlos und es ist schier überwältigend, wie ein Mensch des 16. Jahrhunderts viele der wichtigsten Themen des Lebens so anschaulich, einfallsreich und witzig darstellen konnte.
[1] Montaigne brachte seine Essais viermal in jeweils unterschiedlichen und erweiterten Versionen heraus. Die Korrekturen und Ergänzungen der fünften Auflage, die 1595 erschien, wurden nach seinem Tod von seiner Adoptivtochter vorgenommen. Mit ihnen erhielt Montaignes Werk seine endgültige Form von 3 Bänden. Siehe: J. M. Cohen; Introduction in Montaigne, Essais, Lonon 1966, S. 20.



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[h=1]Montaigne und die Osmanen[/h]Verfasst von Mustafa Armağan am 29. Dezember 2013. Veröffentlicht in Das Osmanische Reich (1299-1922)Der französische Humanist, Skeptiker und Moralphilosoph Michel Eyquem de Montaigne (1533-1592) war der Begründer der literarischen Kunstform des Essays - kurzer, geistreicher Abhandlungen und Denkversuche, in denen kulturelle oder gesellschaftliche Phänomene unter die Lupe genommen werden. Ein guter Essay zeichnet sich dadurch aus, dass seine Gedanken scharf formuliert sind, seine Form klar und sein Stil geschmeidig und natürlich ist. Er nähert sich seinem Thema, indem er vorurteilsfrei mit verschiedenen Perspektiven experimentiert und vor den Augen des Lesers kurz und knapp, verständlich und auf witzige Art und Weise verschiedene Gedankengänge entwickelt.Montaigne war ein Meister dieser Kunst und setzte mit seinem berühmten Hauptwerk Essais Maßstäbe. Montaigne war ein Freidenker. Er distanzierte sich ganz bewusst von der Wissenschaft und vertraute vor allem auf subjektive Erfahrung und Reflexion. Er schrieb mit entwaffnender Offenheit und bewies ein ums andere Mal eine glänzende Beobachtungsgabe. Eigenen Angaben zufolge verfasste er seine Essais - eine mehrbändige Sammlung von Essays, die er selbst auch als ‚Sammelsurium‘ bezeichnete - aus Langeweile. Er fühlte sich isoliert und kommunizierte lieber mit seinen anonymen Lesern als mit den Menschen in seinem Umfeld.Montaigne stammte aus einer entlegenen Bergregion in der Nähe der Alpen, die Frankreich von Italien trennten und damit auch von den noch frischen Einflüssen und Wirren der Renaissance abschotteten. Seine Zeit war geprägt von Reformation, Gegenreformation und Religionskriegen. Viele seiner Zeitgenossen durchlebten damals eine von Orientierungslosigkeit gezeichnete geistige Krise. Montaigne hingegen betrachtete Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus der Perspektive des ‚Denkers aus der Abgeschiedenheit‘. Das ließ ihn einerseits unvoreingenommen und vorurteilsfrei an die Dinge herangehen, machte ihn andererseits aber auch zu einem Einzelgänger und Individualisten. Wie unbeeinflusst er von den Strömungen und Werturteilen seiner Zeit war, zeigt sich ganz deutlich in seiner Haltung gegenüber dem Orient und den Osmanen, die im Europa des 16. Jahrhunderts ein extrem schlechtes Image hatten.[h=2]1. Die Osmanen in der europäischen Kultur[/h]Auch heute wird oft behauptet, es gebe unüberbrückbare Differenzen zwischen den europäischen und den osmanischen Gesellschaften und Kulturen. Man sieht Orient und Okzident als Gegner, die zu keiner Zeit gewillt waren und niemals gewillt sein werden, sich miteinander zu arrangieren. Doch die Vergangenheit erzählt eine andere Geschichte. Die Beziehungen zwischen diesen beiden Blöcken waren vielschichtiger und auch enger als lange Zeit angenommen. Tiefere Analysen haben zu Tage gefördert, dass sich bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Osmanischen Reich Spuren einer ‚modernen‘ Mentalität nachweisen lassen. Die Osmanen interessierten sich durchaus für die Entwicklungen in Europa. Historische Darstellungen lassen uns sogar vermuten, dass der Protestantismus sein Überleben der Unterstützung durch die Osmanen verdankt. Und auch von europäischer Seite war sehr wohl ein Interesse an den Osmanen vorhanden.Der französische Humanist und Orientalist Guillaume Postel (1510-1581) und sein Landsmann, der Jurist und Staatswissenschaftler Jean Bodin (1530-96), brachten ihre Bewunderung für den osmanischen Staat und seine Verwaltungsstruktur zum Ausdruck und bemühten sich, ihren Respekt in ihre politischen Theorien zu integrieren. Der französische Philosoph Voltaire schätzte Moral und Disziplin der Muslime und Osmanen. Der englische Dichter Lord Byron liebte Istanbul und die osmanische Zivilisation. Der französische Dichter Lamartine bekam von Sultan Abdulmecid zum Dank für sein Buch Eine Chronik der Türken ein Bauernhaus geschenkt. Der Vater des französischen Philosophen Jean Jacque Rousseau war Uhrmacher im Topkapi-Palast in Istanbul. Goethe lernte von den Baschkir-Türken, im Koran zu lesen und zu beten. Der italienische Philosoph Tommaso Campanella behauptete gar, der von ihm erdachte utopische ‚Sonnenstaat‘ sei in der Welt der Osmanen Realität geworden. Der Spanier Cervantes, ‚Vater‘ des berühmten Don Quijote, verlor im Kampf gegen die Osmanen einen Arm und schrieb seine Romane in Gefangenschaft in Algerien unter dem Einfluss von einheimischen Gelehrten. Der deutsche Philosoph Wilhelm von Leibniz präsentierte dem französischen König eine Abhandlung, in der er ausführlich darlegte, wie die Osmanen besiegt werden könnten.Insgesamt besaßen die Osmanen und das Osmanische Reich in der europäischen Öffentlichkeit jedoch einen sehr schlechten Ruf, nämlich den von Tyrannen bzw. einer Gewaltherrschaft, was nicht zuletzt auf das verzerrte Bild zurückzuführen war, das der Orientalismus vom Morgenland, vom Islam und insbesondere vom Osmanischen Reich zeichnete.[h=2]2. Montaigne[/h]Montaigne ließ sich von diesem Bild nicht abschrecken und von den herrschenden Vorurteilen nicht leiten. Zum Teil kannte er sie wohl auch gar nicht. Im ersten Satz seiner Essais versichert er seinen Lesern: „In dem Buch, das ich vorlege, will ich aufrichtig sein.“ Und tatsächlich überarbeitete und korrigierte er seine Essays jedes Mal, bevor eine neue Auflage erschien. Wenn er inzwischen neue Einsichten gewonnen hatte, hinterfragte er seine ursprünglich zu Papier gebrachten Gedanken. Er ergänzte sie und fügte auch ganz neue Essays an.[1]In der überarbeiteten und erweiterten Ausgabe seines Werkes von 1595 (erschienen erst nach seinem Tod) empfiehlt er den französischen Soldaten, deren Nachlässigkeit ihm im Bürgerkrieg negativ aufgefallen war, sich die türkischen Soldaten zum Vorbild zu nehmen:„Ihre Disziplin unterscheidet sich von unserer und ist ihr überlegen. In Kriegszeiten sind unsere Soldaten verantwortungsloser und nachlässiger als zu Friedenszeiten. Auf der anderen Seite sind türkische Soldaten gemäßigt und scheuen vor solchem Verhalten zurück, denn das Stehlen von den Armen wird zu Friedenszeiten mit einigen wenigen Peitschenhieben geahndet, in Kriegszeiten hingegen sehr hart bestraft. Auf das Entwenden eines Eis ohne dafür zu zahlen, stehen 50 Peitschenhiebe. Selbst Menschen, die die unbedeutendsten Dinge stehlen, welche weder den Hunger stillen noch irgendeinen anderen Wert besitzen, werden zum Tode verurteilt. Es überrascht mich zu lesen, dass kein Soldat von (Sultan) Selim bei der Eroberung von Damaskus im Rahmen des Feldzugs nach Ägypten irgendetwas aus den einzigartigen Gärten dieser Stadt unterschlagen hat - selbst in unbeobachteten Momenten nicht.“Montaigne machte sich die negative europäische Sichtweise der Osmanen nicht zu Eigen. Zwar blieb auch er nicht unbeeinflusst von der herrschenden Stimmung; aber dennoch betrachtete er das Osmanische Reich nicht als eine ‚typisch orientalische Tyrannenherrschaft‘, sondern widmete sich vielmehr auch differenziert den philanthropischen Aktivitäten der Türken in den Bereichen Flora und Fauna. So wusste er seinen Lesern zu berichten, dass die Türken auch wohltätige Stiftungen und sogar Krankenhäuser für Tiere unterhielten.Montaigne hielt die Osmanen den eigenen Despoten als Spiegel vor und bediente sich damit einer Methode, die nach ihm zahlreiche französische Intellektuelle (u.a. Montesquieu) kopierten. Er war sich der Macht der Gewohnheiten über die Menschen bewusst und unterstrich immer wieder, wie falsch und schädlich es sei, alles, was nicht den eigenen Sitten entspricht, als barbarisch zu bezeichnen. Er schätzte die Unterschiede zwischen den Menschen und versuchte, sie aufzuzeigen und zu analysieren. Der Gedanke, seine Mitmenschen müssten sein wie er, lag ihm fern. Er erkannte, dass man die Welt nicht mit europäischen Maßstäben messen durfte. Für ihn existierten mehrere Welten mit einem jeweils ganz eigenen Lebensstil nebeneinander.Mit dieser Überzeugung stand er jedoch in der westlichen Welt recht allein da, und so blieb ihm ein Platz in den Geschichtsbüchern der Philosophie des Westens lange Zeit verwehrt.[h=2]3. Montaigne und die Türken[/h]Der großartigen Studie von Dana Rouillard[2] verdanken wir die Erkenntnis, dass Montaigne den Orient mit den Türken, d.h. mit den Osmanen gleichsetzte. Es gelang ihm zu dokumentieren, dass Montaigne dem Osmanischen in seinem Werk nach und nach immer mehr Beachtung schenkte, dass er seine Gedanken auch zu den Osmanen immer wieder neu durchdachte und mit jeder neuen Auflage falsche Einschätzungen revidierte.Rouillard zeigte auf, dass Montaigne fest daran glaubte, erst dann abschließend über etwas urteilen zu können, wenn er gut genug darüber Bescheid wusste. Er wies außerdem nach, dass Montaigne seinen Weitblick und seine pluralistische Sichtweise in erster Linie den Osmanen verdankte. Wie Rouillard zu dieser überraschenden Feststellung gelangte? Indem er Montaignes Erkenntnisstand über die Osmanen analysierte. Vor der Erstveröffentlichung seiner Essais 1580 bezog Montaigne seine Informationen über die Türken offenbar lediglich aus der italienischen Geschichtsschreibung, und nicht aus Klassikern oder von Historikern wie Joinville oder Froissart. Der einzige Hinweis auf die Türken in der Ausgabe von 1580 besteht dann auch in der Information, dass sie ihr Essen liegend auf komfortablen Sofas einzunehmen pflegen und dass sie sich das Paradies als einen sinnlichen Ort vorstellen. Doch damals schon machte Montaignes Neugier an den Grenzen des westlichen Kulturkreises nicht Halt.Einigen Anmerkungen zur Ausgabe von 1582 ist zu entnehmen, dass Montaigne in der Zwischenzeit einen neuen Aufsatz in die Hand bekommen haben muss. Sein Interesse für die Osmanen ist offenbar endgültig geweckt. Diese Vermutung wird durch die dritte Auflage bestätigt. In einem polnischen Geschichtswerk stößt er auf detailliertere Berichte über die Welt der Osmanen; unter anderem auch auf ein Bild, das die Feierlichkeiten anlässlich der Beschneidung der Söhne von Murad III. zeigt. Diese Informationen regen ihn dazu an, sich mehr Gedanken über diese Welt, ihre Kostüme und ihre Bräuche zu machen. In der vierten Auflage, die kurz vor seinem Tod erscheint, erreicht sein Interesse an fremden Ländern einen Höhepunkt. Neben anderen Werken, die sich direkt oder indirekt mit der osmanischen Geschichte befassen, liest er die Referenzwerke von Halkokondil über die Gründung und den Aufstieg des Osmanischen Reiches und Postels Buch De la Republique des Turcs. (Postel, einen der wichtigsten Intellektuellen seiner Zeit, kannte er sogar persönlich.) In jener vierten und letzten von ihm selbst redigierten Auflage der Essais finden sich fast 50 Hinweise auf die Osmanen.[h=2]4. Die Türken - ein Volk von Kriegern[/h]Montaigne schenkte den theologischen Deutungen von Sieg und Niederlage der Christen gegen die Muslime keinen Glauben. Die Schlacht von Lepanto von 1571, die die Christen gewannen und anschließend tagelang feierten, kommentiert er beispielsweise ungewöhnlich nüchtern und mit nur wenigen Worten:„Unter dem Kommando von Don Juan d’Austria wurde in den vorangegangenen Monaten ein Seekrieg gegen die Türken gewonnen. Aber Gott war auch zufrieden damit, dass wir in der Vergangenheit etliche Male Zeugen eines gegenteiligen Ausgangs wurden.“Montaigne wünschte, dass seine Landsleute diesem Sieg nicht so große Beachtung schenkten, denn noch stand die türkische Armee. Er hatte erkannt, dass die Osmanen eine beträchtliche militärische Macht aufgebaut hatten, die seiner Ansicht nach vor allem auf dem Faktor Disziplin gründete. Diese Disziplin schreibt er nicht allein harten Strafandrohungen zu, sondern auch der traditionellen körperlichen Selbstbeherrschung und Mäßigung. Er betrachtete die Osmanen keineswegs als Barbaren. Sie wussten, wie sie ihren Verstand nutzen mussten und wie sie zu kämpfen hatten:„Um aufzuzeigen, in welchem Maße die türkischen Armeen intelligenter sind als unsere und sich auch vernünftiger benehmen, reicht es zu erklären, dass sie - neben anderen Tugenden - nur Wasser trinken und Reis und gesalzenes Fleisch essen. So kann jeder von ihnen Proviant für einen ganzen Monat mit sich tragen.“Montaigne nennt noch einen weiteren wichtigen Faktor für die Erfolge der Osmanen - die Tatsache nämlich, dass der Sultan das Oberkommando über die Armee nicht aus der Hand gab. Sultan Selim I. war der Ansicht, Siege, die ohne den Sultan an der Spitze errungen werden, seien keine vollwertigen Siege und schon gar nichts, auf das er stolz sein dürfe. Montaigne begeht andererseits aber nicht den Fehler, alle Sultane über einen Kamm zu scheren. Er war sich bewusst, dass jeder Sultan seine ganz bestimmten Eigenheiten besaß. Überraschenderweise verurteilt er Beyazid II. und Murad III. für ihre - so Montaigne - exzessive Sympathie zu den Naturwissenschaften. Damit hätten sie nicht nur versäumt, sich an die Spitze ihrer Armee zu stellen, sondern darüber hinaus dem Reich großen Schaden zugefügt. Generell spricht sich Montaigne dafür aus, dass Krieger sich von den schönen Künsten fern halten sollen. In seinem Essay ‚Über die Pedanterie‘ kritisiert er die Fehler und die Nutzlosigkeit einiger Wissenschaftler und erklärt kurzerhand alle Arten von Erziehung für wertlos; vor allem dann, wenn sie über die Kreise der Aristokratie hinaus gehen und auf die breite Öffentlichkeit zielen:„Beispiele zeigen uns, dass das Erlernen der Wissenschaften die Herzen nicht abhärtet oder auf den Kampf einstimmt. Nein es verweichlicht sie vielmehr. Der mächtigste Staat heute ist der der Türken. Und sie schätzen die Waffen und verachten die Kunst und die Wissenschaften.“Man möge Montaigne diese Fehleinschätzung nachsehen, denn zu seinen Lebzeiten waren in Europa noch keine Übersetzungen der osmanischen Diwan-Literatur erhältlich. Während aber seine Zeitgenossen diese falsche Einschätzung als Beweis für die Barbarei der Osmanen betrachteten, hielt Montaigne sie für essenziell und lebensnotwendig.In seinem Essay ‚Über die Tugend‘ erzählt Montaigne die Geschichte eines jungen Türken, der es wagte, im Krieg den ungarischen König Hunnyadi Janos herauszufordern, obwohl ihm jede Erfahrung fehlte. Als Sultan Murad den Jungen dazu befragte, verriet dieser ihm, er habe von einem Hasen gelernt, mutig zu sein. Das Schicksal habe diesen Hasen vor 40 seiner Pfeile bewahrt und ihm obendrein dann noch gestattet, einer Meute Hunde zu entwischen. Der Junge erkannte, dass Bogen und Schwert nur dann etwas ausrichten können, wenn das Schicksal es so will. Der Glaube an das Schicksal bzw. die Vorherbestimmung war bei den Türken weit verbreitet. Türkische Historiker bestätigen, dass sich viele türkische Soldaten sicher vor Gefahren wähnten, weil sie glaubten, bei ihrer Geburt sei ihnen eine feste Lebenszeit mit auf den Weg gegeben worden, die sie weder verlängern noch verkürzen könnten.Um die Erfolge der Türken im 16. Jahrhundert zu begründen, sammelte Montaigne nicht systematisch Informationen zu einem bestimmten Thema, sondern erzählte Anekdoten wie diese.[h=2]5. Die Moral der Osmanen und des Islams[/h]Montaigne war den Osmanen gegenüber objektiv. Das bewies er ein an vielen Stellen. Zwar sah er auch viele Aspekte der türkischen Gesellschaft kritisch, aber er ließ sich nie auf extreme Definitionen oder populistische Erklärungen ein. Der Türke war für ihn weder der Barbar noch der feurige Liebhaber. In mehreren Essays versuchte er, das Bild des grausamen Türken zurechtzurücken - wie etwa mit der bereits erwähnten Information, dass die Türken auch wohltätige Stiftungen und sogar Krankenhäuser für Tiere unterhielten.Der einzige Hinweis auf den Islam in der ersten Auflage des Buches betrifft die Himmel. Montaigne war ein Intellektueller, dessen Augen nicht durch religiöse Vorurteile geblendet waren. Und er scheute auch nicht davor zurück, einige extreme Äußerungsformen der Religion als Übertreibungen oder gar als Unfug zu charakterisieren. Selbst dort, wo er über den Aberglauben der Türken schreibt, tut er dies nicht, um auf diesem Wege das Christentum zu verteidigen. Nein, generell lehnt er jede Art von Aberglauben ab, verurteilt ihn als Fehlglauben. So bewahrt er sich auch in diesem Punkt seine Ausgewogenheit.Montaigne war ein frommer Katholik. Er beschäftigte sich nicht nur mit dem Islam, sondern auch mit dem Calvinismus und dem Protestantismus, der über die Alpen in sein Land gekommen war. Er kritisierte die Übersetzung der Bibel in andere Sprachen und lobte die Türken für ihren Respekt vor dem Original ihrer Heiligen Schrift. In einem exzellenten Beispiel für den Geist der Toleranz, der in seinem Werk weht, klagt Montaigne, die Osmanen hätten die Christen in ihren ureigenen Werten überflügelt:„Willst du es mit eigenen Augen sehen? Vergleiche unsere Traditionen und Sitten mit denen eines Heiden oder eines Muslims. [Du wirst sehen, dass unsere unter ihren angesiedelt sind]. Obwohl seine Lehren höherwertig sind, muss der Christ die Tatsache akzeptieren, dass die Muslime, die wir so sehr unterschätzen, ihm in Sachen Gerechtigkeit, Mitgefühl und Tugenden noch einiges beibringen können.“In einem späten Essay berichtet Montaigne von einem Briefwechsel zwischen Papst Pius II. und Sultan Mehmed dem Eroberer. Er erwähnt, dass Beyazid I. und Timur nie und von niemandem irgendwelche Geschenke annahmen. Wie stolz die Türken sind, veranschaulicht Montaigne am Beispiel von Hasan Agha, dem Führer der Janitscharen (der Elitetruppe der Infanterie), der es vorzog zu sterben, nachdem er von Sultan Mehmed gerügt worden war.[h=2]6. Was hat uns Montaigne heute noch zu sagen?[/h]Montaigne näherte sich den Dingen nicht systematisch, nicht bestimmten Prinzipien gehorchend. Er analysiert die Türken, indem er sie zuerst beobachtet und dann seine Schlüsse zieht. Dabei gilt sein Interesse immer dem Menschen, und nicht religiösen Doktrinen. War er deshalb kein gläubiger Mensch? Doch, natürlich, denn jemand, der sich für seinen katholischen Glauben einsetzt, darf sicherlich nicht als Ungläubiger bezeichnet werden. Was ich vielmehr sagen möchte, ist, dass er den Islam und die Osmanen nicht durch die Brille der damals populären Theologie und Religion sah. Auch wenn sich in seinen Essays einige fiktive und falsche Behauptungen finden, hat sich Montaigne sichtlich bemüht, seine Informationen aus vielen unterschiedlichen Quellen zu beziehen. Er unterwarf sich keiner Doktrin und besaß auch keine fixen Ideen, denen er unbedingt zum Durchbruch verhelfen wollte. Immer wieder kam er mit einer neuen Perspektive und neuen Interpretationen. Lange vor Nietzsche wusste er bereits, dass Informationen keineswegs immer Fakten darstellen. Montaigne zufolge gibt es nur Interpretationen und die Interpretationen dieser Interpretationen. Und so war ihm auch klar, dass die meisten Informationen in seinen eigenen Büchern zum Thema Osmanen lediglich Interpretationen waren.Genau dieser Punkt unterscheidet Montaigne von anderen Gelehrten seiner Zeit, und vielleicht hat ihn das auch so einsam gemacht. Er selbst führte seine Einsamkeit zwar auf seine Neigung zur Melancholie zurück, aber wer weiß, vielleicht war sie ja auch seiner eigenwilligen und unangepassten Art zu denken und wahrzunehmen geschuldet. Er lehnte es ab, sich mit den Interpretationen von Interpretationen zufrieden zu geben, versuchte stets, Informationen aus erster Hand zu erhalten, und half seinen Lesern dabei, sich eine eigene Meinung zu bilden. So enthielt er ihnen auch nicht vor, was in anderen Büchern über die Osmanen, ihre Geschichte, Kultur und Moralvorstellungen geschrieben stand. Aber er übernahm es nicht ungeprüft und bezeichnete es oft genug als Unsinn. Montaigne hatte das Gefühl, von einer Mauer aus Interpretationen umgeben zu sein, die ihn daran hinderten, die Stimme der Wahrheit zu vernehmen. Sein kritisches Selbst- und Weltverständnis mutet auch heute noch sehr modern an.Auch Montaigne gibt in seinen Essays Wertungen ab, weist sie aber als seine subjektiven Empfindungen aus. Er gesteht seinen Lesern, dass seine Erkenntnisfähigkeit begrenzt ist, und gibt gerne zu, dass er nicht auf jedem Gebiet Fachmann ist. Und mit diesem Eingeständnis kritisiert er zugleich die seinerzeit sehr verbreitete aufklärerische Besserwisserei.„Ich habe etwas gegen die Vernunft, die den Spaß verdirbt, gegen ihre übertriebenen Ansprüche, durch die das Leben vergewaltigt wird, dagegen, dass die Ansichten, wenn sie wahr sind, so spitzfindig dargestellt werden; die ‚Raison‘ ist zu unbequem, und ihr Nutzen zu teuer erkauft. Dagegen trete ich dafür ein, dass man den Wert sogar des Nichtigen und der Eseleien verstehen lernt, wenn sie mir Freude machen; ich lasse mich eben treiben, wohin mein natürlicher Hang mich führt; und diesem lege ich keine zu engen Beschränkungen auf.“So verabschiedet sich Montaigne von der Illusion der eigenen kulturellen Überlegenheit. Mit seinen Essais zeigt er, dass es keinen allgemein gültigen und einzig richtigen Weg im Leben gibt und dass jedes Individuum seinen eigenen zumindest suchen muss - was eine Kultur der Toleranz voraussetzt. Montaigne plädiert dafür, die Eigenarten der Menschen und Völker kennen zu lernen und sie als Bereicherung zu sehen. Das beweist gerade das Beispiel der Osmanen, in denen die Europäer des 16. Jahrhunderts meistens nichts anderes als Barbaren sahen. Sein Eintreten gegen Vorurteile und für eine kritische, aber doch optimistische Haltung besitzt auch heute noch Vorbildcharakter.Montaigne war ein Philosoph mit dem seltenen Talent, seinen Lesern Wissen zu vermitteln und sie dabei gleichzeitig zum Lachen zu bringen. Das Lesen seiner Essais möchte ich jedem ans Herz legen. Sie gehören für mich zu den größten Werken der Literaturgeschichte und sind für jeden Interessierten eine Fundgrube der Lebensphilosophie. Die Fülle der nützlichen Informationen und Weisheiten ist beinahe endlos und es ist schier überwältigend, wie ein Mensch des 16. Jahrhunderts viele der wichtigsten Themen des Lebens so anschaulich, einfallsreich und witzig darstellen konnte.
[1] Montaigne brachte seine Essais viermal in jeweils unterschiedlichen und erweiterten Versionen heraus. Die Korrekturen und Ergänzungen der fünften Auflage, die 1595 erschien, wurden nach seinem Tod von seiner Adoptivtochter vorgenommen. Mit ihnen erhielt Montaignes Werk seine endgültige Form von 3 Bänden. Siehe: J. M. Cohen; Introduction in Montaigne, Essais, Lonon 1966, S. 20.

 
Alles in allem war das Osmanische Reich nicht so skrupellos und menschenverachtend wie seine darauffolgenden Nachfolgestaaten auf dem Balkan: Griechenland, Serbien, Montenegro und Bulgarien. ;)
 
Rückblickend gesehen war das osmanische Reich für die Mazedonier gar nicht schlimm...wenn da der Nationalismus nicht aufgeblüht wäre...
 
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