Seit Ankara im Juli 2015 endgültig den »Friedensprozess« mit der kurdischen Befreiungsbewegung rund um die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) aufgekündigt hat, führt die Türkei einen erbarmungslosen Feldzug gegen die Stadtbevölkerung im Südosten des Landes: Diyarbakir-Sur, Cizre, Nusaybin, Silopi. Kurdische Städte wurden durch Panzer- und Artilleriebeschuss fast vollständig zerstört, Hunderte Zivilisten starben.
Es bildeten sich zivile Selbstverteidigungseinheiten (YPS), die zusammen mit dem bewaffneten Arm der PKK, den Volksverteidigungskräften HPG, militärisch gegen Polizei und Militär der Türkei vorgehen. Der Journalist Peter Schaber vom Blog Lower Class Magazine hat im nordirakischen Kandil-Gebirge die Kovorsitzende des Exekutivrats der Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK), Bese Hozat, getroffen. Sie ist mit Cemil Bayik der hochrangigste Vertreter dieses aus der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hervorgegangenen Dachverbandes. Er vereint alle an der Weltanschauung des als PKK-Chef inhaftierten Abdullah Öcalans orientierten kurdischen Parteien und Verbände in der Türkei, dem Irak, Syrien und dem Iran. Hozat stammt aus der ostanatolischen Region Dersim und gehört der alevitischen Glaubensgemeinschaft an. Sie schloss sich 1994 der PKK an, in deren Frauenguerilla sie später als Kommandantin kämpfte. Schaber sprach mit ihr über den Krieg des türkischen Staates gegen die Kurden und deren zivilen und militärischen Widerstand. Hozat forderte dabei eine Korrektur der Politik von den USA, der EU und Deutschland den Kurden gegenüber. (jW)
In den vergangenen Monaten gab es massive Attacken des türkischen Staates auf die kurdische Bewegung. Gleichzeitig kündigt er an, man werde weder Gespräche mit der PKK führen, noch mit den militärischen Operationen aufhören. Welche Strategie verfolgt Ankara?
Der türkische Staat betreibt eine Politik des Genozids an den Kurden. Die Entscheidung dafür fiel im September 2014. Ein »Niederschlagungsplan« wurde anschließend der Presse präsentiert. Am 30. Oktober 2014 beschloss man im Nationalen Sicherheitsrat den totalen Krieg. In der Zeit danach wurde der »Niederschlagungsplan« Schritt für Schritt umgesetzt.
In der Folgezeit gab es gezielte Übergriffe auf demokratische Strukturen. Gleichzeitig fand in kurdischen Städten eine große Verhaftungswelle statt. Vielerorts kam es zu Angriffen auf die Guerilla. Seit 2015, nachdem am 5. April die Gespräche mit der Führung (gemeint ist der auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan, P. Sch.) abgebrochen worden waren, wurden diese Attacken heftiger. Am 24. Juli ließ die Regierung umfangreiche Luftangriffe fliegen. Es folgte im Oktober in Ankara ein großes Massaker, 103 Menschen verloren dort ihr Leben, zahlreiche Menschen wurden verwundet.
Die heutige Regierung führt seit Jahren einen Genozid an Kurden durch – letztlich steht sie da in einer 100 Jahre alten Tadition. Allerdings gab es phasenweise einen Dialog mit der PKK. Doch der Staat fand kein richtiges Konzept, um eine politische Lösung des Konflikts zu erreichen – jedenfalls keines, dass die Rechte der Kurden anerkennt. Die Schritte, die er in diese Richtung machte, dienten dazu, die Bewegung hinzuhalten. Langsfristig wollte er sie – und damit die PKK – auslöschen sowie die Werte annullieren, die sich die Kurden durch ihren Kampf geschaffen hatten. Sogar der Dialog, der unter dem Namen »Friedensprozess« (ab Winter 2012, P. Sch.) stattfand, war ein Versuch der Vernichtung. Ankara wollte den Kampfes- und Widerstandswillen brechen. Während dieser gesamten Zeit führte die AKP innerhalb des Staatsapparats einen Plan zur Erweiterung ihrer Macht und zur Erlangung der totalen Herrschaft über den Staat durch. Den »Friedensprozess« nutzte die Partei für ihre eigenen Interessen. Denn sogar während der Verhandlungen wurden die Kriegsvorbereitungen fortgesetzt. In Kurdistan wurden sehr viele Polizei- und Militärstationen gebaut. Das Dorfschützersystem (paramilitärische Verbände im Kampf gegen die PKK, P. Sch.) wurde umgestaltet. Es wurden zahlreiche Straßen gebaut, die militärischen Zwecken dienen.
Gleichzeitig machten die Kurden große Schritte, was ihre Organisierung in Kurdistan und den Aufbau eines demokratischen Autonomiesystems betrifft. Im Norden Syriens, im heutigen Rojava, fand eine Revolution statt. Dort wurde ein demokratisches Kantonsystem geschaffen. Gegen den IS wurde unter der Führung der YPG (der Volksverteidungseinheiten, P. Sch.) und der syrischen demokratischen Kräfte ein großartiger Kampf geführt. Und das brachte die AKP in Schwierigkeiten, machte ihr Angst. Denn Daesch (»Zwietracht säen«, eine abfällige Bezeichnung für den IS, P. Sch.) war ihr strategischer Verbündeter. Beide vertreten dieselbe Ideologie. Die Errungenschaften in Rojava inspirierten die Kurden in Nordkurdistan (Ostanatolien in der Türkei, P. Sch.). Das führte auch in Bakur zu einer erfreulichen Entwicklung des Kampfes um Freiheit und Demokratie. All das störte den türkischen Staat, vor allem aber die AKP. Um diese Errungenschaften zu beseitigen und die PKK zu schwächen, beschlossen sie den totalen Krieg und den Völkermord.
Seitdem die AKP-Regierung ihre Angriffe begonnen hat, beobachten wir verschiedene Formen des Widerstandes, angefangen bei dem der Jugend in den Städten. In letzter Zeit nehmen auch Aktivitäten der Guerilla zu. Gehen ihre Einheiten bereits mit voller Kraft in diesem Kampf?
Gegen die Politik des Staates leisteten die Kurden in den Städten Widerstand, sie erklärten ihre Autonomie. Da die Guerilla sich im Winter nicht so gut bewegen konnte, führte sie zunächst nur wenige Aktionen durch. Der Kampf nahm eher die Form des Volkswiderstands, des Widerstands der Jugend, ihrer Selbstverteidigung an. Mit Beginn des Frühlings haben sich die Wege auch für uns geöffnet, die Voraussetzungen sind für die Guerilla günstiger geworden. So ist es selbstverständlich, dass unsere Tätigkeiten zunahmen. Ab jetzt werden die Bedingungen noch besser. Also werden die Aktionen sowohl auf dem Land als auch in den Städten sowie in türkischen Metropolen sich verstärken. Parallel dazu wird natürlich der Volkswiderstand überall stärker fortgesetzt. Wir haben beschlossen, den Kampf in Nordkurdistan sowie in der Türkei zu intensivieren und zu radikalisieren.
Gibt es eine Koordination zwischen der Guerilla und den zivilen Selbstverteidigungskräften YPS, die in den Städten aktiv sind? Oder handeln letztere autonom?
Die YPS ist eine lokale Jugendorganisation zum Zweck der Selbstverteidigung. Das Wesentlichste ist ihre Art der Organisierung: durch das Volk selbst, durch die Jugend. Selbstverständlich unterstützen wir das. An unserem Volk werden Massaker verübt. In Cizre wurden etwa 400 Menschen ermordet – bei lebendigem Leibe verbrannt. In Sur waren es ungefähr 100 Zivilisten, die das gleiche Schicksal erlitten. Vielerorts in Kurdistan – zum Beispiel in Hezex, in Nusaybin – wurden Massaker begangen. Das geschah auch in Kerboran, in Sirnak, in Hakkari. In ganz Kurdistan finden Angriffe, Massaker, Verhaftungen sowie Folter statt. Leichen werden geschändet. Solche Greueltaten, solche Verbrechen gegen die Menscheit, solche Kriegsverbrechen werden von der AKP und dem türkischen Staat begangen.
In dieser Situation kann es nichts Legitimeres geben als die Selbstverteidigung durch das Volk. Aus diesem Grund unterstützen wir natürlich seinen Widerstand, den Kampf der Jugend. Wir koordinieren sie allerdings nicht direkt. Sie treffen ihre eigenen Entscheidungen, sie kämpfen selbständig. Zudem ist auch der Kampf der demokratischen Kräfte in der Türkei sehr wichtig. Der Faschismus wendet sich nicht allein gegen Kurden, sondern gegen alle demokratischen Kräfte im Land, alle sozialen Gruppen verschiedener Volksgruppen, Kulturen und Glaubensrichtungen.
Sie haben bereits vor einigen Tagen erwogen, es könne ein Wahlbündnis zwischen der Republikanischen Volkspartei (CHP), der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und kleineren Parteien geben. Ist ein solches Bündnis angesichts der staatstreuen Politik der CHP überhaupt möglich. Immerhin hat die Partei kürzlich der Aufhebung der Immunität von HDP-Abgeordneten zugestimmt.
Innerhalb der CHP hat der linke, der sozialdemokratische Teil immer noch keine hegemoniale Position erlangt. Ihre Politik steht größtenteils unter dem Einfluss einer laizistisch-nationalistischen Tendenz. Ihre Haltung in der Immunitätsfrage, in der sie die AKP unterstützt, ist eine Folge davon. Aber das ist ein Kampf. Also beziehen sich unsere positiven Analysen auf die linken, sozialdemokratischen Kreise innerhalb der CHP. Die aktuelle Politik der Partei finden wir falsch, wir kritisieren sie dementsprechend.
Die AKP hat einen faschistischen Block geschaffen. Das sind keine Angriffe, die die AKP als eine Partei im Alleingang durchführt. Es existiert eine Koalition faschistischer, nationalistischer Kräfte, die aus der AKP, der MHP (Partei der nationalen Bewegung, P. Sch.) und den laizistischen Nationalisten besteht. Gegen diesen Pakt gilt es in Kurdistan und in der Türkei ein breites demokratisches Bündnis zu schaffen. Würde unter der Führung eines solchen Blocks ein Kampf um Demokratie geführt, fiele der faschistische Pakt auseinander. Aus diesem Grund halten wir das Bündnis demokratischer Kräfte für essentiell. Wir streben es an.
Gerade für den parlamentarischen und zivilgesellschaftlichen Kampf sind die Bedingungen schlechter denn je: Keine Presse- oder Versammlungsfreiheit, das Parlament wird in seinen Rechten beschnitten. Wenn in Städten wie Diyarbakir Menschen friedlich und ohne Waffe demonstrieren, riskieren sie, erschossen zu werden. Wie kann unter diesen Bedingungen zivilgesellschaftlicher und parlamentarischer Widerstand geschaffen werden?