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Republiken Donezk und Luhansk, Russland erkennt ihre Staatlichkeit und Unabhängigkeit an

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Das 1997 veröffentlichte Buch »The Grand Chessboard« (Das große Schachbrett), Brzezinskis Hauptwerk, gewährt einen tiefen Einblick in die langfristigen Interessen US-amerikanischer Machtpolitik. Es enthält einen analytischen Abriß der geopolitischen Zielsetzungen der Vereinigten Staaten für einen Zeitraum von 30 Jahren.
In der deutschen Übersetzung heißt das Buch »Die einzige Weltmacht«.[1] Dieser Titel bezeichnet den ersten Grundsatz, nämlich den erklärten Willen, die »einzige« und – wie Brzezinski es nennt – sogar »letzte« Weltmacht zu sein. Noch entscheidender ist jedoch die zweite Prämisse. Derzufolge ist Eurasien »das Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft auch in Zukunft ausgetragen wird«. (S. 57)
Diesem zweiten Grundsatz liegt die Einschätzung zugrunde, daß eine Macht, die in Eurasien die Vorherrschaft gewinnt, damit auch die Vorherrschaft über die gesamte übrige Welt gewonnen hätte. »Dieses riesige, merkwürdig geformte eurasische Schachbrett – das sich von Lissabon bis Wladiwostok erstreckt – ist der Schauplatz des global play« (S. 54), wobei »eine Dominanz auf dem gesamten eurasischen Kontinent noch heute die Voraussetzung für globale Vormachtstellung ist«. (S. 64) Und zwar einfach deshalb, weil Eurasien der mit Abstand größte Kontinent ist, auf dem 75 Prozent der Weltbevölkerung leben und der drei Viertel der weltweit bekannten Energievorkommen beherbergt. [...]
Brzezinski kommt [...] zu dem Schluß, daß das erste Ziel amerikanischer Außenpolitik darin bestehen muß, »daß kein Staat oder keine Gruppe von Staaten die Fähigkeit erlangt, die Vereinigten Staaten aus Eurasien zu vertreiben oder auch nur deren Schiedsrichterrolle entscheidend zu beeinträchtigen.« (S. 283) Es gelte, »die Gefahr eines plötzlichen Aufstiegs einer neuen Macht erfolgreich« hinauszuschieben. (S. 304) Die USA verfolgen das Ziel, »die beherrschende Stellung Amerikas für noch mindestens eine Generation und vorzugsweise länger zu bewahren«. Sie müssen »das Emporkommen eines Rivalen um die Macht (...) vereiteln«. (S. 306)
Diese Äußerungen klingen zehn Jahre nach Erscheinen des Buches und nach dem Scheitern der Bush-Regierung außerordentlich fragwürdig. In seinem jüngsten Buch erkennt Brzezinski jedoch eine »zweite Chance«, das Bemühen um eine dauerhafte amerikanische Vorherrschaft umzusetzen. Dies wird besonders deutlich an der Rolle, die Brzezinski – ganz wie Obama – damals wie heute Europa zuspricht. Ein transatlantisch orientiertes Europa habe für die USA die Funktion eines Brückenkopfes auf dem eurasischen Kontinent (S. 91). Gemäß dieser Logik würde eine EU-Erweiterung nach Osten zwangsläufig auch eine Osterweiterung der NATO nach sich ziehen. Diese wiederum – so die Idee – soll den amerikanischen Einfluß weit nach Zentralasien ausdehnen und einen Machtvorsprung gegenüber Konkurrenten sichern: »Amerikas zentrales geostrategisches Ziel in Europa läßt sich also ganz einfach zusammenfassen: Durch eine glaubwürdigere transatlantische Partnerschaft muß der Brückenkopf der USA auf dem eurasischen Kontinent so gefestigt werden, daß ein wachsendes Europa ein brauchbares Sprungbrett werden kann, von dem aus sich eine internationale Ordnung der Demokratie und Zusammenarbeit nach Eurasien hinein ausbreiten läßt« (S. 129).
Brzezinski war sich jedoch bereits 1997 bewußt, daß auch bei erfolgreicher Umsetzung dieses Plans die Weltmachtposition der USA nur von kurzer Dauer sein kann. Warnend schreibt er an anderer Stelle: »Amerika als die führende Weltmacht hat nur eine kurze historische Chance. Der relative Frieden, der derzeit auf der Welt herrscht, könnte kurzlebig sein« (S. 303). Deshalb definiert er als langfristiges Ziel des Machterhalts die Fähigkeit, »ein dauerhaftes Rahmenwerk globaler geopolitischer Zusammenarbeit zu schmieden«. (S. 305) Er spricht in diesem Zusammenhang auch von einem »transeurasischen Sicherheitssystem (TSEE)« (S. 297), das über die Grenzen einer nach Zentralasien erweiterten NATO hinaus Kooperationen mit Rußland, China und Japan beinhalten würde. Europa käme dabei die Rolle eines »Eckpfeilers einer unter amerikanischer Schirmherrschaft stehenden größeren eurasischen Sicherheits- und Kooperationsstruktur« (S. 91) zu.
 
Doch was ist mit diesem transeurasischen Sicherheitssystem konkret gemeint? Deutlicher könnte dies in Verbindung mit den Positionen anderer Strategen und Staatsmänner werden. Tatsächlich fällt ein interessantes Licht auf Brzezinskis Ziele, wenn man sie mit Äußerungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin in seiner Rede auf der Münchner »Sicherheitskonferenz« am 10. Februar 2007 konfrontiert. Putin wandte sich darin gegen die von den USA nach dem Kalten Krieg favorisierte Geopolitik, die seiner Ansicht nach eine »unipolare Welt« anstrebe: »In wie freundlichen Farben auch immer man (eine solche unipolare Welt – H. R.) ausmalen mag, letztlich bezieht sich der Terminus auf eine bestimmte Situation, in der es ein Zentrum der Staatsgewalt, ein Machtzentrum und ein Entscheidungszentrum gibt. Das ist eine Welt, in der es einen Herrn gibt, einen Souverän.«
Und weiter heißt es: »Was gegenwärtig in der Welt geschieht, ist eine Folge der Versuche, genau dieses Konzept, das Konzept einer unipolaren Welt, in die internationalen Beziehungen zu tragen. (...) Gegenwärtig erleben wir eine fast unbeschränkte, übermäßige Anwendung von Gewalt – militärischer Gewalt – in den internationalen Beziehungen, einer Gewalt, die die Welt in einen Abgrund permanenter Konflikte stürzt. (...) Politische Lösungen zu finden, wird gleichfalls unmöglich. (...) Ein Staat – und dabei spreche ich natürlich zunächst und vor allem von den Vereinigten Staaten – hat seine nationalen Grenzen in jeder Hinsicht überschritten.«[2]
Aus russischer Sicht ist die langfristige Strategie amerikanischer Außenpolitik gerade unter geopolitischen Gesichtspunkten eindeutig: Wie von Brzezinski vorgeschlagen, streben die USA an, ihren Einfluß auf dem asiatischen Kontinent immer weiter auszudehnen. Dabei dient ihnen Europa als Sprungbrett auf dem eurasischen Kontinent. Da jede Osterweiterung der Europäischen Union unter den gegebenen Umständen zugleich auch den amerikanischen Einfluß ausdehnt, sollen durch eine Kombination aus EU-Osterweiterung und Expansion der NATO viele der ehemaligen Sowjetrepubliken – wie zum Beispiel Georgien, Aserbaidschan, Ukraine und Usbekistan – in die westliche Einflußzone integriert werden.
Maßgeblich für diese Integration ist, daß sich ein Land für ausländisches Kapital öffnet und an das westliche Rechtsverständnis anpaßt. Geschieht dies, dann ist es westlichen Konzernen möglich, sich die Rohstoffvorkommen zu sichern und über die Medien Einfluß auf die Öffentlichkeit eines Landes zu gewinnen.
Zentrale Bedeutung kommt dabei der Region um das Kaspische Meer zu. Da diese über die zweitgrößten Öl- und Gasreserven verfügt und zudem militärstrategisch von besonderer Bedeutung ist, würde eine westliche Vormachtstellung in dieser Region die Position der USA auf dem eurasischen Kontinent massiv stärken. Zusammen mit der Kontrolle der US-verbündeten OPEC-Staaten Kuwait, Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate, Katar und den eroberten Staaten Irak und Afghanistan würde sie einer Vorherrschaft der USA über Zentral'*'asien die nötige Autorität verleihen, um von dort schließlich ganz Eurasien, einschließlich Chinas und Rußlands, in eine von den USA entworfene überstaatliche Sicherheitsstruktur zu integrieren.
Die von Europa ausgehende NATO-Osterweiterung und die von der Bush-Regierung im Süden Eurasiens (Irak, Afghanistan) begonnenen militärischen Interventionen bilden zusammen gewissermaßen einen Keil, mit dem die USA in das Herz der eurasischen Landmasse vorstoßen. Gelingt es den USA tatsächlich, dieses Ziel zunächst in Eurasien zu erreichen, wäre die hergestellte Ordnung aufgrund der Größe und Bedeutung des eurasischen Kontinents paradigmatisch für die gesamte übrige Welt. Lateinamerika, Afrika, Australien und alle Inselstaaten wären, dem Brzezinski-Plan zufolge, gezwungen, sich einer solchen Ordnung anzuschließen.
Die USA wären dann nicht nur die »einzige«, sondern – wie Brzezinski es formuliert – auch die »letzte echte Supermacht« (S. 307). [...]
 
Politik der Ausgrenzung
Seit Brzezinski diese Ziele formulierte, haben die USA einen starken Verlust geopolitischer Macht erfahren. In seinem jüngsten Buch »Second Chance« gibt er offen zu, daß der Plan einer direkten militärischen Besetzung einiger Länder des Nahen Ostens, wie sie den Neokonservativen vorschwebte, gescheitert ist.[3] Doch diese Niederlage ist für Brzezinski nicht so massiv, daß er die 1997 formulierten Pläne einer US-Vorherrschaft in Eurasien grundsätzlich aufgeben möchte. Das Scheitern der direkten militärischen Machtausdehnung im Süden Eurasiens bedeutet für ihn lediglich, daß nun die von Europa ausgehende Osterweiterung der NATO an Priorität gewinnt. Dies bedeutet jedoch einen massiven Vorstoß in die russische Einflußsphäre. Damit würde nach dem Iran nun Rußland ins Fadenkreuz der US-Geopolitik geraten.
Die unipolare Welt, vor der Putin vor einem Jahr auf der Münchner Sicherheitskonferenz warnte, ist also keine Schimäre, sondern ein reales geopolitisches Projekt der USA. Dies ist auch daran ersichtlich, daß die Vereinigten Staaten im Zuge der Expansion der NATO nach Osten Tatsachen schaffen, ohne Rußland und China wirklich einzubeziehen bzw. deren Sicherheitsinteressen ernst zu nehmen.
Insgesamt erleben wir in den letzten Jahren, vor allem seit dem 11. September 2001, eine starke Zunahme gewaltförmigen Handelns in den internationalen Beziehungen. Insbesondere die USA legten wenig Wert auf internationale Absprachen und Konsensbildung. Das Völkerrecht wurde durch das unilaterale Handeln der USA zunehmend ausgehöhlt, während Institutionen wie die UNO geschwächt worden sind. An ihre Stelle sind die sogenannten friedenserhaltenden Einsätze der USA, EU oder NATO, zum Beispiel im ehemaligen Jugoslawien, getreten. Dabei wird als selbstverständlich vorausgesetzt, daß das westliche Verteidigungsbündnis oder westliche Staaten die gesamte Weltgemeinschaft vertreten können.
Mit dem unilateralen Handeln der USA geht die Zunahme gewalttätiger »Konfliktregulierung« einher. Man denke nur an die präventive Erstschlagdoktrin der USA und ihre Anwendung im Irak-Krieg. Oder man führe sich den Einsatz von Uranmunition im Irak- und Afghanistan-Krieg vor Augen, der – in der Presse weitgehend verschwiegen – in beiden Kriegsgebieten die Mißbildungsrate bei Säuglingen vervielfacht hat. Zu nennen ist zudem die in die Wege geleitete NATO-Osterweiterung bis ans Kaspische Meer, die Rußland zwangsläufig beunruhigen muß.
Ähnlich verhält es sich mit der Stationierung eines Raketenschildes nicht nur in Tschechien und Polen, sondern auch in weiteren an Rußland angrenzenden Regionen, und schließlich die von den USA vorangetriebene Aufrüstung im Weltraum, von dessen strategischer Logik noch zu reden sein wird. [...]
All dies zeigt deutlich, daß die von den USA angestrebte Weltordnung nicht auf Konsensbildung und demokratischen Absprachen beruht. Statt dessen läßt die Politik nicht erst der Bush-Regierung die geopolitische Strategie erkennen, durch Schaffung vollendeter Tatsachen einen Machtvorsprung vor Europa, China und Rußland zu gewinnen. Durch den drastischen Anstieg der Rüstungsausgaben seit 9/11, die längst alle Rekorde des Kalten Krieges hinter sich gelassen haben, versuchen die USA, einen technologisch uneinholbaren Vorsprung vor ihren Konkurrenten zu erlangen. Diese Politik ist hochgefährlich, da sie notwendigerweise Gegenreaktionen hervorruft und bereits jetzt ein neues Wettrüsten in Gang gesetzt hat. Und es ist mehr als fraglich, ob dieser Politik ihre Gefährlichkeit genommen werden kann, indem ein zukünftiger Präsident Obama mit China und Europa Absprachen trifft, während er Rußland, so er den Plänen Brzezinskis Folge leistet, weiterhin einer verschärften militärischen Bedrohung aussetzt.
Besonders deutlich wird diese Politik der Ausgrenzung Rußlands am Beispiel der strategischen Funktion des geplanten Raketenschildes. Dessen Stationierung in Polen und Tschechien ist keineswegs dazu gedacht, iranische Raketen, wie vorgegeben, abzufangen. Erstens verfügt der Iran gar nicht über Raketen mit einer Reichweite von 5000 bis 8000 Kilometern. Zweitens ist die Entwicklung solcher Lenkwaffen ein langwieriger Prozeß, da von ersten Testflügen, die kaum unbemerkt vonstatten gehen könnten, bis zur endgültigen Fertigstellung Jahre vergehen. Und drittens, sollte der Raketenschild tatsächlich der Abwehr iranischer Raketen dienen, so wäre der russische Kompromißvorschlag, ein gemeinsames Abfangsystem in Aserbaidschan zu errichten, weit besser dafür geeignet. Denn dort stationierte Abfangraketen könnten iranische Raketen bereits am Beginn ihrer Flugbahn treffen und zerstören. [...]
Daß die USA diesen Kompromißvorschlag ausgeschlagen haben, läßt nur einen Schluß zu: Der Raketenschild richtet sich in erster Linie nicht gegen den Iran, sondern gegen Rußland. Dies wird auch dadurch unterstrichen, daß die anderen Basen des Raketenschildes ebenfalls in Grenzregionen zu Rußland, wie beispielsweise Alaska, stationiert sind. [...]
 
Der neue Kalte Krieg
Während des Kalten Krieges hatten sich beide Seiten stets darum bemüht, eine nukleare Erstschlagkapazität zu erwerben. Diese bedeutet, daß eine Seite in der Lage ist, die jeweils andere in einem Überraschungsangriff zu enthaupten und sie somit der Fähigkeit zu berauben, einen Gegenschlag auszuführen – etwa indem man entweder alle gegnerischen Atomwaffen in einem Überraschungsschlag außer Gefecht setzt, die Kommandostrukturen vollständig lahmlegt oder indem man einen Gegenschlag soweit zu begrenzen vermag, daß es möglich ist, ihn erfolgreich abzuwehren.
An dieser Stelle kommt der Raketenschild ins Spiel. Seine strategische Bedeutung besteht darin, jene paar Dutzend Raketen abzufangen, die Moskau nach einem amerikanischen Überraschungsangriff noch für einen Zweitschlag zur Verfügung stünden. Der Raketenschild ist also ein entscheidender Faktor in dem Bemühen, eine nukleare Erstschlagkapazität gegenüber Rußland aufzubauen. Zwar ist zunächst geplant, nur zehn Abfangraketen in Polen zu stationieren. Doch sofern das System erst einmal errichtet ist, könnte deren Zahl leicht erhöht werden.
Daß diese strategischen Überlegungen bei derzeitigen amerikanischen Rüstungsanstrengungen tatsächlich eine Rolle spielen, zeigt ein im April/Mai 2006 in »Foreign Affairs«, der führenden außenpolitischen Fachzeitschrift, publizierter Aufsatz. Der Essay trägt den Titel: »The rise of U.S. nuclear primacy«[4] – zu Deutsch: Der Aufstieg nuklearer US-Vorherrschaft. Die beiden Autoren, Keir A. Lieber und Darley G. Press, stellten sich darin die Frage, ob China oder Rußland im Falle eines nuklearen Überraschungsangriff durch die USA in der Lage wären, mit einem Zweitschlag zu reagieren. Um zu ermitteln, wie sehr sich das nukleare Gleichgewicht seit dem Ende des Kalten Krieges verschoben hat, ließen die Autoren im Computermodell einen US-amerikanischen Überraschungsangriff auf Rußland simulieren. Sie benutzten dabei die Methoden, die im Verteidigungsministerium seit Dekaden verwendet werden. Das Ergebnis war, daß die russischen Verteidigungskräfte weitgehend radarblind sind und selbst einen von U-Booten im Pazifik aus gestarteten Angriff wahrscheinlich erst bemerken würden, wenn die ersten Raketen Moskau erreichen. Selbst wenn ein Überraschungsangriff darauf verzichten würde, zuallererst die Radaranlagen und die Kommandozentralen auszuschalten, wären Lieber und Press zufolge die USA in der Lage, etwa 99 Prozent der russischen Atomraketen im Erstschlag zu zerstören. Das verbliebene eine Prozent der russischen Atomkapazität, das Moskau in einem Zweitschlag noch abfeuern könnte, würde nach Ansicht der Autoren durch den Raketenschild neutralisiert werden.
Dieser Artikel führt vor Augen, worin die eigentliche Funktion des Raketenschilds besteht: Er soll den USA die Fähigkeit sichern, einen Atomkrieg zu führen, ohne selbst von Gegenschlägen getroffen zu werden. Wäre diese Fähigkeit erst einmal erworben, so ließe sie sich als geopolitisches Druckmittel einsetzen, um nationale Interessen durchzusetzen. So könnte eine absolute nukleare Überlegenheit etwa dazu dienen, einen Machtverlust auf wirtschaftlichem oder finanzpolitischem Gebiet auszugleichen.
 
Mini Nukes und Bunker Busters
Daß es sich dabei um mehr als nur eine pessimistische Befürchtung handelt, zeigen noch andere Aspekte der amerikanischen Rüstungsanstrengungen. So entwickeln die USA derzeit Atomwaffen mit begrenzter Sprengkraft. Diese sogenannten Mini Nukes werden wiederum zu speziellen bunkerbrechenden Waffen, sogenannten Bunker Busters, weiterentwickelt. Das Besondere dieser Waffen ist, daß sie mit hoher Geschwindigkeit auftreffen und sich einige Meter in die Erde eingraben können und auf diese Weise im Idealfall unterirdisch explodieren.
Offiziell begründet man die Entwicklung dieser neuen Generation von Atomwaffen mit dem Ziel, nur auf diese Weise tief unter der Erde befindliche Bunkeranlagen, wie etwa im Iran, mittels der entstehenden Druckwelle zerstören zu können. Doch diese Begründung ist zweischneidig. Zum einen hat man damit indirekt zugegeben, daß die schon öfters von investigativen Journalisten aufgedeckten Pläne, in einem möglichen zukünftigen Iran-Krieg Atomwaffen einzusetzen,[5] durchaus ernstzunehmen sind. Und zum anderen besitzt nicht nur der Iran derartige Bunker; auch entscheidende Kommandostrukturen der russischen Nuklearstreitkräfte befinden sich in unterirdischen Bunkeranlagen. [...]
Um die Weltherrschaft
Es stellt sich die Frage, warum der Kalte Krieg trotz des Sieges des Kapitalismus offensichtlich in eine zweite Runde geht. Oder sollte gar, jedenfalls in der US-amerikanischen Rezeption, der alte »Kalte Krieg« niemals aufgehört haben?
Auch hinsichtlich dieser Frage finden sich Anhaltspunkte bei Brzezinski. Das Rußland-Kapitel seines Hauptwerks »Die einzige Weltmacht«[6], fällt durch eine sehr polemische Überschrift auf. Er bezeichnet Rußland als »Das schwarze Loch«. Nach der Selbstauflösung der Sowjetunion gesteht Brzezinski Rußland kaum noch das Recht auf einen eigenen geopolitischen Einflußbereich zu. Das Bemühen, auf der Basis wirtschaftlicher Kooperationen und militärischer Zusammenarbeit Einfluß in einigen der ehemaligen Sowjetrepubliken zu bewahren, wird von Brzezinski als »geostrategische Wunschvorstellung« (S. 142) verworfen. Dagegen entwirft er das Bild eines zukünftigen Rußlands, das seine Bestrebungen nach geopolitisch selbständigem Handeln weitgehend aufgegeben hat und sich statt dessen in Fragen der Sicherheitspolitik der NATO und in Fragen der Wirtschaftspolitik dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank unterordnet. Die Tatsache, daß russische Außenpolitiker Belarus, die Ukraine und andere ehemalige Sowjetrepubliken als ihre natürliche Einflußsphäre ansehen, bewertet Brzezinski unterschiedslos als »imperiale Restauration« (S. 168) oder »imperialistische Propaganda« (S. 288). Versuche, in Zukunft eine geopolitisch bedeutende Position zurückzuerlangen, nennt er »nutzlose Bemühungen« (ebd.). An einer Stelle schlägt Brzezinski sogar eine Spaltung Rußlands in drei oder vier Teile vor: »Einem locker konföderierten Rußland – bestehend aus einem europäischen Rußland, einer sibirischen Republik und einer fernöstlichen Republik – fiele es auch leichter, engere Wirtschaftsbeziehungen mit Europa, den neuen Staaten Zentralasiens und dem Osten zu pflegen« (S. 288 f.). Die unverhohlene Arroganz, mit der sich Brzezinski 1997 über Rußland äußerte, zeigt, daß er dem ehemaligen Gegner im Kalten Krieg allenfalls die Rolle einer Kolonie bzw. eines Dritte-Welt-Landes zuordnet.
Andererseits spiegeln diese Äußerungen aber auch Rußlands reale Stellung nach einer ganzen Serie wirtschaftlicher Rezessionen wider. Diese erreichten 1998 mit der Abwertung des Rubels ihren vorläufigen Höhepunkt. Rußland war seinerzeit hoch verschuldet und mußte einen Teil seiner wirtschaftspolitischen Souveränität, ganz wie ein Land der »Dritten Welt«, an den IWF und die Weltbank abgeben. Brzezinski beendete denn auch sein Kapitel über Rußland mit den Worten: »Tatsächlich besteht das Dilemma für Rußland nicht mehr darin, eine geopolitische Wahl zu treffen, denn im Grunde genommen geht es ums Überleben.« (S. 180)
 
»Politik der Schwächung«
Mittlerweile hat sich gezeigt, daß Rußland – allen Prognosen amerikanischer Außenpolitik zum Trotz – überlebt hat und seine geographische Ausdehnung zu bewahren vermochte. Rußland ist nicht länger jenes »schwarzes Loch«, in dem ausländische Mächte nach Belieben schalten und walten können.
Dieser Entwicklung trägt Brzezinski in seinem jüngsten, 2007 erschienenen Buch »Second Chance« (Zweite Chance) kaum Rechnung. Nach wie vor befürwortet er eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Und nach wie vor bewertet er das russische Bemühen, Einfluß in der Ukraine zu bewahren, als Imperialismus.[7] Dabei war die Ukraine über 200 Jahre lang mit Rußland verbunden. Nahezu 20 Prozent der Ukrainer sind Russen; hinzu kommen zahlreiche Bürger »gemischter« Herkunft. Und schließlich wird in weiten Teilen des Landes russisch gesprochen.
Doch die US-amerikanische Politik war von Anfang an auf die Schwächung des einstigen Rivalen gerichtet. Dies zeigt auch die Wirtschaftspolitik des Westens gegenüber Rußland nach dem Fall der Berliner Mauer. Wie Naomi Klein in ihrem jüngsten Buch nachzeichnet, hatte die Rußland vom Westen aufgezwungene ökonomische Schocktherapie vor allem den Sinn, das Land in einen billigen und von ausländischem Kapital abhängigen Rohstoffexporteur zu verwandeln.[8] Einen besonders deutlichen Ausdruck fand diese von Washington betriebene »Politik der Schwächung« in Brzezinskis Idee einer Drei- oder Vierteilung des Landes. Der Grund für diese Politik ist vermutlich in der geographischen Lage Rußlands zu suchen.
In »The Grand Chessboard« findet sich eine Karte, auf der Brzezinski das »eurasische Schachbrett« darstellt. Darin ist der Doppelkontinent in vier Regionen – oder, um bei der Schachmetapher zu bleiben – in vier Figuren eingeteilt. Die erste Figur auf dem eurasischen Schachbrett umfaßt etwa die heutige Europäische Union, die zweite China einschließlich einiger angrenzender Staaten, die dritte den Nahen und Mittleren Osten einschließlich Teile Zentralasiens. Doch die mit Abstand größte Figur – die Brzezinski die mittlere Region nennt – stellt Rußland dar.
Der geopolitische Theoretiker Harold Mackinder hatte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts eine ähnliche Einteilung vorgenommen. [...] Ebenso wie Mackinder im Hinblick auf das britische Empire sieht auch Brzezinski knapp 100 Jahre später den Machtkampf um die Vorherrschaft Eurasiens als die Schicksalsfrage jedes herrschenden Imperiums an. Denn ebenso wie das britische Empire haben auch die USA eine geographische Lage, die eher abseits der sogenannten »Welteninsel« (Eurasien) angesiedelt ist. Die USA müssen als nicht-eurasische Nation ihre Weltmachtposition auf einem Kontinent durchsetzen und verteidigen, auf dem sie nicht zu Hause sind. Sie könnten somit leichter als andere Staaten aus Eurasien verdrängt werden. Dies wiederum zwingt die US-Außenpolitik zu einer umso größeren und gewissermaßen präventiven Einflußnahme auf dem asiatischen und europäischen Kontinent.
Rußland ist somit in den Augen US-amerikanischer Geopolitiker die entscheidende Figur auf dem eurasischen Schachbrett. Die Überwindung der ideologischen Konkurrenz bedeutete nicht, daß auch die geographische Rivalität überwunden wurde. Im Gegenteil, Rußland ist aufgrund seiner geographischen Lage aus Sicht der amerikanischen Geopolitiker so privilegiert, daß wahrscheinlich schon deshalb eine präventive Schwächung Rußlands ins Auge gefaßt wurde.
Im Kampf um Europa
Die USA sind die größte Macht außerhalb Eurasiens. Wollen sie den eurasischen Kontinent dominieren, so geraten sie automatisch in einen Interessengegensatz zu Rußland. Dabei ist Rußland weit davon entfernt, die stärkste Macht auf dem eurasischen Kontinent zu sein. Wirtschaftlich wird Rußland nie mit China und Europa konkurrieren können. Allerdings ist das Land durch seine geographische Position im Zentrum der eurasischen Landmasse und seinen Rohstoffreichtum langfristig in der Lage, eurasische Kooperationen zu begründen.
So könnten etwa vertiefte Wirtschaftsbeziehungen zwischen Rußland und der EU letztere in die Lage versetzen, eine transatlantische Orien'*'tierung durch eine kontinentale zu ergänzen. Dies wiederum würde einen erheblichen Unabhängigkeitsgewinn Europas gegenüber den USA bedeuten. Für eine zunehmende Ostorientierung der EU spricht auch, daß russische und europäische Interessen langfristig komplementär sind. Von russischer Seite besteht eine große Nachfrage nach europäischer Technologie, während es Europa mittel- und langfristig schwer gelingen wird, seine Energieversorgung ohne russische Vorräte sicherzustellen.
In ganz ähnlicher Weise könnte ein Bündnis zwischen Rußland und China, welches sich bereits in der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) herausbildet, langfristig ein zweites weltwirtschaftliches Zentrum in Asien begründen. Dies würde es den USA erschweren, ihren Einfluß im Nahen Osten und in Zentralasien zu wahren. [...]
Die geographisch begründeten Interessengegensätze zwischen Rußland und den USA erklären die amerikanische Rußlandpolitik seit dem Fall der Berliner Mauer. Der neue Kalte Krieg erweist sich als die Fortsetzung des alten, insofern dieser nie wirklich aufgehört hat. Der Kalte Krieg wurde fortgesetzt, weil die USA mit dem Fall der Berliner Mauer nur eines ihrer beiden geopolitischen Ziele erreicht haben. Das erste Ziel war zweifellos der Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus. Doch das zweite Ziel – dies wird erst jetzt im Zuge der aktuellen Politik der USA deutlich – war die unangefochtene Vormachtstellung der USA in Eurasien, um die Welt in eine post-nationalstaatliche Ordnung unter US-amerikanischer Hegemonie zu überführen.
 
Die neuen Konkurrenten der USA
Doch dieser Traum amerikanischer Allmacht, den Brzezinski 1997 wie selbstverständlich als legitim voraussetzt, ist in den letzten Jahren zunehmend unrealistisch geworden. Durch den rasanten Aufstieg nicht nur Rußlands, sondern auch Chinas und Indiens rückt er in immer weitere Ferne. [...] Bereits zehn Jahre nach Brzezinskis außenpolitischer Analyse sind die USA mit der Erschöpfung ihrer imperialen Kräfte konfrontiert. Wie soll es dem Land erst möglich sein, einen fremden Kontinent gegenüber einem selbstbewußten Rußland und erstarkten China zu dominieren? Die napoleonischen Kriege und der Zweite Weltkrieg sind zudem Beispiele dafür, daß auch schon in der Vergangenheit alle Versuche, vom Rande Eurasiens in sein – russisches – Zentrum vorzustoßen, stets gescheitert sind. Wie werden sich die USA verhalten, wenn auch sie von diesem Schicksal eingeholt werden?
Das hängt davon ab, ob es sich bei den von Brzezinski 1997 formulierten Zielsetzungen um solche handelt, die pragmatisch fallengelassen werden können, wenn sie sich als unrealistisch erweisen – oder ob es sich um Ziele handelt, die so sehr mit der Identität des Landes, seinen Institutionen und seiner politischen Führungselite verwachsen sind, daß sie letztlich weder relativiert noch aufgegeben werden können.
Geht man vom günstigsten Fall aus, so würde dies bedeuten, daß die US-Geopolitiker erkennen, daß die 1997 von Brzezinski formulierten Ziele sich als nicht erreichbar erwiesen haben. Und daß die europäischen Politiker einsehen, daß eine Neuauflage dieser Pläne in Gestalt einer transatlantischen Zusammenarbeit letztlich nicht im europäischen Interesse liegt.
In den nächsten fünf Jahren könnte der US-Dollar seine Position als vorherrschende Weltwährung einbüßen. Damit aber verlören die USA auch einen erheblichen Teil ihrer Seignioragevorteile (Münzprägegewinne, d.h. vom Staat bzw. von der Notenbank erzielte Erträge, die durch Geldschöpfung entstehen – d. Red.), die wiederum die finanzielle Basis ihrer enormen Rüstungsausgaben bilden. Viele der militärischen Basen außerhalb der USA könnten dann nicht länger finanziert werden. Fortan müßten sich die USA ihre Weltmachtposition mit eurasischen Konkurrenten wie China, Rußland und Europa teilen. Es wäre gut möglich, daß sie ihren Einfluß in Zentralasien – infolge ihrer vergangenen Politik in dieser Region – gänzlich verlieren. Umso absurder mutet es an, daß ausgerechnet jetzt, da die sogenannten BRIC-Staaten (Brasilien, Rußland, Indien und China) ein enormes Wirtschaftswachstum generieren, die NATO erstmals ein weltweites Gewaltmonopol für sich beansprucht. [...]
Die Welt des 21. Jahrhunderts wird voraussichtlich nicht mehr in demselben Maße von den Vereinigten Staaten geprägt werden, wie dies im letzten halben Jahrhundert der Fall war. In dem Maße, in dem unterschiedliche Kontinente und Kulturkreise sich über ein übernationales Rahmenwerk der geopolitischen Ordnung der Zukunft einig werden müssen, entsteht auch Raum für alternative Entwürfe.
An die Stelle einer von den USA dirigierten Globalisierung könnte ein Prozeß der offenen Aushandlung zwischen ungefähr gleich starken Mächten treten. Dadurch wäre der Westen weit mehr als bisher mit seiner eigenen Außenwahrnehmung konfrontiert. Die heute noch allgemein akzeptierte Vorstellung vom »guten Abendland« dürfte erheblich ins Wanken geraten, wenn die Ausbeutung der »Dritten Welt«, die Praxis des Schuldenimperialismus und die Unterstützung von Diktaturen einmal Gegenstand einer geschichtlichen Erinnerung, ja möglicherweise sogar gerichtlichen Aufarbeitung werden würde.
Die neue Vorkriegszeit
Doch vielleicht ist genau dies die Zukunftsprognose, gegen die letztlich Brzezinskis Plan, einer US-Vorherrschaft in Eurasien gerichtet ist. Und möglicherweise gilt dies nicht nur für Brzezinski, sondern für weite Teile der amerikanischen Elite. Einiges spricht dafür, daß der Glaube an die legitime Vorherrschaft der USA so eng mit dem Identitätsgefühl ihrer Elite verflochten ist, daß auch das offensichtliche Scheitern dieser Politik in der Ära Bush nicht zu einer neuen Orientierung führen wird. Der in Brzezinskis jüngstem Buch »Second Chance« entworfenen Plan durch eine vertiefte amerikanisch-europäische Zusammenarbeit die Vorherrschaft über Eurasien zu erlangen, deutet darauf hin.[9] Dies scheint der letzte Strohhalm zu sein, nach dem die USA – ob unter Barack Obama oder John McCain – greifen könnten, um die Einsicht abzuwehren, daß die Vorherrschaft des Westens über ganz Eurasien weder politisch noch wirtschaftlich und erst recht nicht militärisch durchsetzbar ist.
Welchen Verlauf würde die Geschichte nehmen, wenn die amerikanischen und europäischen Geopolitiker – ungeachtet der neuen Machtverteilung – tatsächlich am Plan der Vorherrschaft über Eurasien festhalten würden? In diesem Fall müßte es zu einem Zusammenstoß verschiedener Großmächte kommen – ob in Form eines kalten oder heißen Krieges.
Da ein neuer Kalter Krieg sich nicht im Gleichgewicht des Schreckens, sondern in einer militärischen und technologischen Asymmetrie vollziehen würde, wäre damit auch die Gefahr der Auslösung eines heißen Krieges ungleich höher. So könnten sich etwa die Inhaber eines Raketenschildes in falscher Sicherheit wiegen und den Krieg im Zuge einer diplomatischen Krise auslösen. Umgekehrt könnte die unterlegene Seite – die über keinen Raketenschild verfügt – den Krieg präventiv beginnen, sofern sie davon überzeugt ist, daß die andere Seite dies ohnehin langfristig plant. Der präventive Kriegsbeginn würde als asymmetrischer Ausgleich für das nicht vorhandene Raketenschild fungieren.
Doch ein Zusammenstoß verschiedener eurasischer Akteure könnte sich auch in Gestalt eines Stellvertreterkrieges ereignen. Der Ort eines solchen Zusammenstoßes wären mit hoher Wahrscheinlichkeit die ölreichen Regionen des Nahen Ostens und Zentralasiens. Wenn die durch Peak Oil hervorgerufene Energiekrise erst einmal begonnen hat, dürften diese Regionen endgültig ins Fadenkreuz aller Mächte geraten. [...]
Würde die geopolitische Konkurrenz in der Region zwischen Irak, Iran, Afghanistan, Pakistan und einigen ehemaligen Sowjetrepubliken ähnlich ausgetragen werden wie im vergangenen Jahrhundert auf dem europäischen Balkan, wären die menschlichen Verluste kaum abzuschätzen. Auf dem eurasischen Balkan konkurrieren weit mehr Mächte miteinander als einst auf dem europäischen Balkan. Die wichtigsten Akteure sind Rußland, die USA, die Türkei und der Iran. In den letzten Jahren ist zudem der Einfluß Chinas, Indiens, Pakistan und der EU immer spürbarer geworden. Insgesamt erstreckt sich der eurasische Balkan über ein Gebiet, das mehrere hundert Millionen Menschen umfaßt. Der amerikanische Historiker Niall Ferguson hat sogar die These vertreten, daß ein solch grenzübergreifender Bürgerkrieg auf dem eurasischen Balkan wahrscheinlich ist und letztlich einen neuen Weltkrieg darstellen würde. Ferguson kommt zu dem Schluß, daß die dann zu erwartenden Opferzahlen jene des Zweiten Weltkriegs übersteigen könnten.[10] Die Veröffentlichung von Fergusons Artikel in der vom Council on Foreign Relations herausgegebenen Zeitschrift Foreign Affairs zeigt, daß der berühmteste außenpolitische Think-Tank der USA einen ausufernden Bürgerkrieg auf dem eurasischen Balkan als eine Möglichkeit ansieht, mit der zu rechnen ist.
Würde eine mächtige Koalition aus verschiedenen Staaten, ähnlich wie die NATO 1999 in Jugoslawien, schließlich als friedensstiftende Macht in einen solchen Konflikt eingreifen, so wäre sie nicht nur in der Position, die Grenzziehungen des Nahen Ostens und Zentralasiens neu zu bestimmen. Eine solche Koalition wäre dann auch in der Lage, die direkte militärische Kontrolle über einen beträchtlichen Teil der weltweiten Öl- und Gasvorräte auszuüben. Eine solche »friedensstiftende Koalition« wäre der eigentliche Gewinner in einem solchen Krieg. Denn die Kontrolle dieser Energiereserven stellt einen so bedeutenden geopolitischen Machthebel dar, daß, wer immer ihn besitzt, wohl auch der maßgebliche Hegemon des 21. Jahrhunderts sein würde.
 
Europa als Zünglein an der Waage
Die Grundsatzentscheidung darüber, welchen Verlauf die Geschichte im 21. Jahrhundert nehmen wird, dürfte jedoch weder bei den USA noch bei Rußland liegen. Die Interessen beider Staaten sind zu eindeutig und programmatisch zu festgelegt, als daß sie sich ernsthaft zwischen grundsätzlich verschiedenen Alternativen entscheiden können.
Rußland wird sein Interesse, die ehemaligen Sowjetrepubliken als seine natürliche Einflußzone anzusehen, vermutlich nie fallenlassen. Umgekehrt scheinen die USA wenig gewillt zu sein, ihre Vorherrschaft auf dem eurasischen Kontinent kampflos aufzugeben. Die Entscheidung in diesem »great game« muß deshalb bei einem geopolitischen Akteur liegen, der von verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten profitieren könnte und somit wirklich vor einer Wahl steht. Die einzige geopolitische Macht, auf die diese Beschreibung zutrifft, ist Europa.
Das von Brzezinski vorgelegte geopolitische Konzept amerikanischer Vorherrschaft im 21. Jahrhundert erweist sich in jeglicher Hinsicht abhängig von europäischer Kooperation. Ohne eine von der EU unterstützte Osterweiterung der NATO erwiese sich der Plan, ein von den USA dominiertes transeurasisches Sicherheitssystem zu schaffen, als unrealistisch. [...]
Europa ist somit für die Vereinigten Staaten ein unverzichtbarer Partner. Europas eigene Interessenlage unterscheidet sich dagegen in wichtigen Punkten von der amerikanischen. Seiner eigenen geopolitischen Lage nach kann Europa sowohl atlantische als auch eurasische Kooperationen eingehen. Seinen eigenen Interessen am nächsten käme eine Politik, die sich sowohl nach Westen als auch nach Osten orientiert. Eine derartige Ost'*'orientierung der EU versuchen die USA, nicht zuletzt auch durch einen neuen Kalten Krieg zu verhindern – unter Instrumentalisierung der osteuropäischen Staaten. Sollte es Brüssel nicht gelingen, den Regierungen Polens und Tschechiens die Stationierung amerikanischen Radar- und Abschußanlagen auszureden, so stellt sich die Frage, welchen politischen Sinn und Zweck die Europäische Union eigentlich noch hat.
Brzezinskis geopolitische Analysen besitzen zwar eine Eigenlogik mit hoher Überzeugungskraft. Doch dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß ihre Prämissen falsch sind. Eurasien als Schachbrett zu betrachten ist auf den ersten Blick eine originelle Idee. Doch wie so viele Ideen, die Geschichtsmächtigkeit beansprucht haben, erweist sie sich bei genauerer Betrachtung als geistig leer und politisch verheerend. Die Welt ist im 21. Jahrhundert multilateral eng miteinander verflochten und damit klein und zerbrechlich geworden. Geopolitische Machtspiele, die die Logik eines Schachspiels auf Kontinente übertragen, werden dieser neuen Situation nicht gerecht. Es ist daher erforderlich, die geopolitische Logik an sich zu relativieren und in Zweifel zu ziehen.
Statt den geopolitischen Machtkampf bis zum Äußersten zu treiben, kommt es heute darauf an, der geopolitischen Logik eine Denkweise entgegenzusetzen, die sich auf die Zivilisation als ganzes bezieht. Viel wichtiger als die Frage, ob das 21. Jahrhundert ein amerikanisches, europäisches oder chinesisches sein wird, ist die Frage, auf welchen Prämissen wir das Leben der menschlichen Gattung begründen wollen. Die USA der Ära '*'Bush haben mit Guantánamo und der Grünen Zone in Bagdad ihre Vorschläge bereits eingereicht. Es bleibt zwar abzuwarten, ob sie unter seinem Nachfolger, wer auch immer dies sein wird, zu einer zivilisierenden Korrektur in der Lage sein werden. Sollte jedoch das Streben nach globaler Vorherrschaft von den USA weiter verfolgt werden, muß Europa reagieren. Als unabdingbarer Partner der USA verfügt nur die »alte Welt« über die Möglichkeit, den amerikanischen Plänen die Unterstützung zu entziehen. Und Europa sollte dies im Interesse der Zivilisation auch tun.
Anmerkungen
Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Berlin 1997, S. 307 – Dieses Werk im folgenden mit Seitenzahl im Text.
Rede von Wladimir Putin auf der Konferenz für Sicherheitspolitik in München am 10.2.2007, dokumentiert in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/2007, S.374 (auch in jW v. 14.2.2007 - d. Red.)
Zbigniew Brzezinski, Second Chance, New York 2007
Keir A. Lieber und Darley G. Press, The Rise of U.S. Nuclear Primacy, in: Foreign Affairs, 2/2006, S. 42-54
Seymour M. Hersh, The Iran Plans, in: The New Yorker, 17.4.2006
Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Berlin 1997 – Dieses Werk im folgenden mit Seitenzahl im Text
Vgl. Brzezinski, Second Chance, New York 2007, S. 189
Naomi Klein, Die Schockdoktrin, Frankfurt a. M. 2007, S. 303 - 364
Vgl. Brzezinski, Second Chance, a.a.O., S. 186-188
Niall Ferguson, The Next War of the World, in: Foreign Affairs, 5/2006
 
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