Der Balkan unter osmanischer Herrschaft
Debakel einer Grossmacht
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Mit nüchternem Blick
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Gegenwärtig wird mit der Verherrlichung imperialer Vergangenheit wieder grosse Politik betrieben. Die offizielle Türkei propagiert gerne die Erinnerung an das Osmanische Reich als Ordnungsfaktor. Umso nötiger ist ein nüchterner Blick auf das, was das Osmanische Reich als Staat in der Region hinterlassen hat, aus der es 1912 durch den Ersten Balkankrieg verdrängt worden ist. Es geht um die Leistungsfähigkeit des Staates, von staatlichen Institutionen, um Durchherrschung und staatliche Massnahmen zur wirtschaftlichen, besonders infrastrukturellen Förderung bedeutender Flächenprovinzen, nicht aber um das kulturelle Erbe etwa in Küche und Musik.
Im 19. Jahrhundert stand das Osmanische Reich unter zunehmendem Reformdruck. Armee und Verwaltung wurden modernisiert (in den sogenannten Tanzimat-Reformen), um regionalen Nationalstaaten und Grossmächten zu begegnen. Die Einbindung der christlichen Bevölkerungsmehrheit am Balkan wurde kaum je ernsthaft betrieben. Die Muslime in der Region, von Bosnien bis nach Kreta, waren seit Jahrhunderten an eine privilegierte Stellung gegenüber Christen gewohnt und nicht bereit, die Politik der Gleichbehandlung – nicht Gleichstellung – der Zentralregierung umzusetzen. In Kosovo riefen albanisch-muslimische Notabeln bei der Verlesung entsprechender Reformen aus, der Sultan müsse verrückt geworden sein.
Panislamische Ideen
Im letzten halben Jahrhundert osmanischer Herrschaft am Balkan blieben bei einer im Übrigen extrem beschleunigten politischen Entwicklung strukturelle Neuerungen aus: 1870 wie 1912 war das Osmanische Reich nicht in der Lage, im Vilayet Kosovo regelmässig Steuern einzuziehen, Rekruten auszuheben, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen oder gar eine Volkszählung durchzuführen. Und dies, obwohl es alle Machtmittel anwandte, die ihm zur Verfügung standen, von der Einbindung und Bestechung regionaler Politiker bis hin zu massivster Gewaltausübung.
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Muslimische Albaner stellten das Rückgrat der irregulären Kämpfer, aber auch vieler Einheiten der osmanischen Armee. Sicherheitspolitik bedeutet auch, dem staatlichen Gewaltmonopol Nachdruck zu verleihen. Legal Waffen tragen durften nur Muslime, für die nach albanischem Gewohnheitsrecht die Waffe erweiterter Teil der Persönlichkeit war – Entwaffnung wurde als eine Form der Entmannung angesehen und war daher aus soziokulturellen Gründen kaum durchsetzbar. Jedoch konnte staatlicher Gerichtsbarkeit nur bei Entwaffnung der Bevölkerung Respekt verschafft werden. Das Reich fand aus diesem Dilemma nicht heraus. Die Folgen waren fatal: Denn das Machtgefälle zwischen bewaffneten Muslimen und den Christen, die bestenfalls illegal Waffen besassen, war enorm.
Physische und strukturelle Gewalt
Die Berichte der österreichischen Konsuln, Schlüsseldokumente zur Epoche, ändern sich zu dieser Frage über fünfzig Jahre kaum. Am Vorabend des Ersten Balkankriegs stellte ein – notabene eigentlich proalbanischer – Konsul fest, Christen zu plagen und zu terrorisieren, sei «Nationalsport» der muslimischen Albaner. Physische und strukturelle Gewalt durch Muslime sind ein Hauptcharakteristikum des Alltags an der balkanischen Peripherie des Osmanischen Reiches. Die Gründe waren vielfältig: Christen waren seit je Untertanen zweiter Klasse, und dies hatte sich in der Mentalität der Muslime tief eingeprägt. In Zonen erheblicher Staatsferne verschärfte sich dies durch den weitgehenden Mangel behördlicher Kontrolle. Doch selbst wo diese vorhanden war, bestanden die Behörden aus Muslimen, die Verbrechen an Christen in der Regel nicht ahndeten. Staatsschwäche und religiöse Behördenkonnivenz mit Delinquenten verhinderten schon im Ansatz jede Loyalität von Christen zum osmanischen Staat.
Die Förderung panislamischer Ideen verschärfte die Lage zusätzlich: In der Grossen Orientkrise (1875–1878) kam es in Kosovo zu pogromartigen Ausschreitungen gegen Christen. Die sogenannte Liga von Prizren, heute als albanischer Protostaat gefeiert, war eher ein Bund muslimischer Notabeln mit christenfeindlicher Tendenz. Weitere Zusammenschlüsse muslimischer Albaner, etwa die sogenannte Liga von Peja (1899), standen ganz unter dem Einfluss konservativ-islamischer Gruppen. Die osmanische Regierung unterband mit der Staatsideologie des Islamismus erfolgreich die albanische Nationalbewegung im heutigen Kosovo und Makedonien und spaltete Muslime und Christen.
Die einseitige Bevorzugung der Muslime erhöhte aber deren Reformfreudigkeit nicht. Das Bergland entzog sich der Staatskontrolle fast vollständig, im Nordwesten bestanden die alten Stammesgebiete fort. Muslimische Stammeskrieger plünderten regelmässig die mehrheitlich muslimischen Städte der Ebenen aus. Oftmals verschanzten sich osmanische Truppen in ihren Kasernen. Als im Zuge einer Polizeireform nach 1903 serbisch-orthodoxe Polizisten eingestellt wurden, erbitterte dies die muslimische Bevölkerung derart, dass die Ordnungshüter Armeeschutz suchen mussten. Besonders deutlich rebellierten ländliche Regionen gegen die staatliche Autorität, wenn sie Steuereintreiber und Volkszählungsbeamte verjagten, das zumeist ausländische Bahnpersonal bedrohten und hohe osmanische Beamte zwangen, mit Draisinen fluchtartig ihre Posten zu verlassen.
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Staatsferne ist ein Kernstück des osmanischen Erbes. Die Bilanz des Jahres 1912 ist bedrückend: Die strukturelle Diskriminierung von Christen erklärt deren Rachebedürfnis und Gewalt gegen Muslime in den Balkankriegen. Es fehlte jede Erfahrung politischer Teilhabe, Bildung und Gesundheitsversorgung waren fast inexistent. Voraussetzungen für den Übergang einer vormodernen Agrargesellschaft in die Verhältnisse des europäischen 20. Jahrhunderts fehlten ganz. Schwer lastet das osmanische Staatsversagen bis heute auf den Regionen des inneren Balkans.
Prof. Dr. Oliver Jens Schmitt lehrt Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Die von ihm geleitete fünfbändige Edition der k. u. k. Konsulatsberichte aus dem Vilayet Kosovo wird gefördert vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF).