Traurige Lehren aus Morsals Ermordung
Der Wertekompass unseres Rechtsstaats muss von allen akzeptiert werden. Er garantiert nämlich auch Erfolg bei der Integration.
Die Bilder der 16-jährigen Morsal zeigen ein Mädchen mit großen Ohrringen, üppiger Schminke und einem Piercing über den Lippen. Die junge Hamburgerin sieht aus wie Tausende gleichaltriger Mädchen, die mittags rauchend auf dem Pausenhof stehen, abends im Café mit Jungs flirten und nachts von einem Leben träumen, in dem sie ihre Vorstellungen vom kleinen Glück verwirklichen können. Morsal Obeidi war so ein Mädchen, deshalb musste sie sterben. Ermordet von ihrem Bruder, der damit die Ehre der Familie retten wollte – wo längst nichts mehr zu retten war. Der Vater, ein Pilot der afghanischen Armee in Zeiten russischer Herrschaft, verließ das Land aus Angst vor den Taliban. In der neuen Heimat Deutschland scheiterte er dann an den Herausforderungen der Freiheit und dem Druck des westlichen Lebensstils. Er begann zu trinken, verlor seinen Job und riss die vatergläubige Familie mit in den Abgrund.
Anders als bei vielen gescheiterten Integrationsgeschichten brachten die Obeidis gute Voraussetzungen mit. Die Ausbildung des Vaters war für Flüchtlinge aus Afghanistan ungewöhnlich gut. Dennoch fehlte die Bereitschaft, sich über den westlichen Kleidungsstil hinaus auf das Menschenbild der Mehrheitsgesellschaft einzulassen. Morsal, so berichten Freundinnen und Lehrer übereinstimmend, war im Westen angekommen. Sie war sozial engagiert und schien auf fast natürliche Art emanzipiert. Das Freiheitsversprechen der Gesellschaft sah sie als Chance, aus dem Terror der Bevormundung auszubrechen.
Selbstverwirklichungssehnsüchte
Der Erfolg von Integration hängt stark von Selbstverwirklichungssehnsüchten ab. Für muslimische Mädchen bieten die modernen Rollenbilder der Frauen ein verlockendes Emanzipationsvorbild. Die vor vier Jahren in Berlin von ihrem Bruder hingerichtete Hatun Sürücü war ein ähnliches Musterbeispiel gelungener Integration. So lange bis die vermeintlich starken Brüder dem Glück ihrer Schwestern mit einer verstörend gnadenlosen Brutalität ein Ende bereiteten.
Mit Morsal und Hatun Sürücü verlor Deutschland einen Teil seiner Zukunft. Mädchen wie sie mit ihrem unerschütterlichen Mut und ihrer ungebrochenen Zuversicht müssen besser geschützt werden. Dass die randalierenden Verwandten des nun zu lebenslanger Haft verurteilten Ahmad Obeidi in ihrer Wut auch die weißen Kerzen, die am Gerichtseingang an Morsal erinnern sollten, wegwarfen, passt in das Bild einer unzivilisierten Aggression, von der es in den deutschen Großstädten zu viel gibt. Sie richtet sich stets gegen vermeintlich Schwächere. In Berlin machen arabische und türkische Jugendliche Jagd auf Schwule oder jüdische Schüler mit Kippa. Das geschieht vor allem in jenen Vierteln, wo die Migranten nicht mehr marginalisierte Minderheit sind, sondern tief intolerante Mehrheit.
Keinerlei Einsicht zu erkennen
Das Verhalten der Familie Obeidi nach der Verkündung des Urteils lässt keinerlei Einsicht erkennen. Im Gegenteil: Die Attacken auf Gericht und Staatsanwaltschaft illustrieren den Hass auf den Wertekompass des Rechtsstaates. Gerade eine liberale Gesellschaft darf bei der Gewährung ihrer Grundrechte keine Relativierungen zulassen, egal wie archaisch die Familientradition mancher Täter sein mag. Prozesse wie der um die Ermordung von Morsal entwerfen ein düsteres Bild vom Innenleben jener Parallelgesellschaften, die Multikulturalisten zu lange verklärt haben. Jedes misshandelte Mädchen, jeder verprügelte Schwule, jede heruntergeschlagene Kippa ist ein Angriff auf unsere freiheitliche Verfasstheit
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