Das Interview von Zuckermann war in 2-3 Minuten zu lesen, der Bezug auf deine kritisierte Hamas nimmt, daher verstehe ich deine ganzen Ausführungen mit rechtfertigenden Charakter nicht. Bzw. ich verstehe es schon, da hier auf berechtigfte Einwände, nicht nur hier in diesem unbedeutenden Forum sondern auch bei öffentlichen Diskussionen mit Einzeilern und Ein-Sätzen alles ins lächerliche gezogen werden soll. Das man auch kein halt bei westlichen Politikern, die diesen komplizierten Konflikt wie auf Knopfdruck vom Band alle mit den selben Tweet und Statement abhacken "Israel hat das Recht sich selbst zu verteidigen". Und wenn man es akademischer Umschreiben will, dann übergeht man zu politischen Theorien über und fängt an mit philosophischen Gedankengänge von den eigentlichen Diskussionspunkten abzulenken. Ich brauch keine Amy Kaplan zu lesen, wenn das beim südafrikanischen Apartheidstaat ohne funktioniert hat. Die gleichen, die einen Mandela feiern und sich auf die Schulter klopfen, wie scheiße und Unrecht Südafrika seine Bewohner separiert hat, wollen das im Falle Israels nicht sehen und müssen die wildesten Rechtfertigungen suchen um auf Biegen und Brechen eine brauchbare Antwort zu finden. Warum schreibt niemand über Kaplan und amerikanische Liberale, wenn es bei den Kurden geht? Da zeigen wir sofort (zurecht) auf die Türken.
Welche Medien du konsumierst, kann ich nicht wissen. Vielleicht lebst du auf Island oder so. Da wo ich aber lebe, sind sämtliche Herausgeber und Verleger der großen Leitmedien, sei es privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich organisiert, Mitglieder der Atlantiker und ähnlichen Think tanks. Das einzige was da links ist, ist deren Einsatz für eine Identitätspolitik, damit für LBQT, BLM und der Frage ob wir lieber Gendersternchen und Kinder nicht lieber geschlechtsneutral ansprechen und erziehen sollen. Hin und wieder ein Quotenbeitrag, der nicht unbedingt pro-Palästina ist, aber zumindest neutral gehalten, damit man sich auch hier auf die Schulter klopfen kann zu einer neutralen Berichtserstattung.
Wo sind den die Zusammenhänge zwischen der Gründung der Hamas und Israel erklärt, während es bei der Türkei oder Russland eine buntere und interaktivere Graphik gibt, wie dort die Zusammenhänge zwischen Terrorzellen und ihren Finanzämtern zusammenhängt? Warum wird eine regierungskritische und linke Haaretz kaum in Deutschland zitiert, wenn doch deiner Meinung die Medienlandschaft hier ach so links und antiimperialistisch ist? Haaretz verweist seit den Anfängen den Konflikts, damit seit den Lynchmärchen Kahanes nationalistischer Jugend, seit Siedler in Sheikh Jarrah palästinensischer Häuser besetzt haben, seit Israel während der Ramadan-Zeit palästinensische Muslime schikaniert haben, damit es genau zu dieser Reaktion der Hamas kommt, die jetzt davon ablenkt, dass Netanyahu wegen Korruption stark in Kritik steht und jetzt im 5. Wahlgang mit einer Mehrheit seinen Kopf und Kragen retten kann, nachdem seine letzten 4. Regierungen allesamt gescheitert sind in rechtsnationalen Koalitionen.
Der Experte auf diesen Gebiet Michael Lüders verweist wie sämtliche (!) israelische und jüdische Intektuelle (Avi Schlaim, Avner Cohen, M. Zuckermann, M. Zimmermann, Gideon Levy) bestätigen mehr oder weniger direkt, dass die Hamas als Gegenspieler der gemäßigten und säkularen PLO gegründet wurde um die Palästinenser in zwei Lager aufzuteilen. Von der Hamas geht mir ihren selbst gebastelten Raketen aus Gaza faktisch keine Gefahr aus, werden aber regelmäßig wann immer es die politische Situation der Israelis erfordert ausgenutzt um alle völkerrechtswidrigen Taten zu rechtfertigen. Da ich weiß, dass sich ohnehin niemand die Mühe machen wird den Antisemiten Lüders oder den Juden Zuckermann anzuhören, hier mal eine grobe Auflistung das Leben eines Palästinensers in seinem Land:
- die aus den Küstengebieten des heutigen Israels nach Gaza vertriebenen Palästinenser müssen autark und abgeschnitten von der Außenwelt leben. Israel sieht sich nicht - obwohl sie die gegenwärtige Situation dort zu verantworten haben - Verantwortlich für diesen Landstreifen, kontrolliert aber gleichzeitig alle Zugänge in und aus Gaza. Desweiteren gilt über Gaza eine ständige Blockade zu See, zu Land und zu Wasser, die völkerrechtlich genauso rechtswidrig ist wie die Annektion Ost-Jerusalems und der Golan-Höhlen
- 70% der Menschen in Gaza sind auf Lebensmittelhilfen angewiesen. Diese kommen allerdings vom Ausland und nicht aus Israel und auch nur dann, wenn Israel nicht wie regelmäßig die Zugänge schließt
- 97% des in Gaza verbrauchten Wassers eignet sich nicht für den menschlichen Gebrauch
- die Umstände, die Israel in Gaza durchgesetzt haben (2 Mio. Einwohner), haben laut UN diesen Streifen unbewohnbar gemacht
- durch die Blockade ist die Wirtschaft in Gaza ruiniert, die Mittelschicht ausgelöscht. Die Situation ist für einen Palästinenser, der nichts mit Gewalt am Hut hat, auswegs- und perspektivlos
- die in Ost-Jerusalem lebenden Palästinenser sind von der West-Bank abgeschnitten, empfangen aber als Nicht-Juden weniger Sozialleistungen bei höheren Steuerabgaben
- Sheikh Jarrah ist dabei der nördliche Teil der Grenze zwischen Ost-Jerusalem und der West-Bank, wenn wie hier gefordert die Palästinenser ihr Schicksal für die nächsten Jahre weiterhin einfach so hinnehmen sollen, dann wird in Zukunft Ost-Jerusalem wie West-Berlin abgeschnitten sein
- Bewohner des Westjordanlandes dürfen Ost-Jerusalem nur mit Genehmigung betreten, deren Bearbeitung Wochen dauert und den meisten Fällen abgelehnt wird
- Möchte ein Palästinenser von Ramallah nach Bethlehem, kann er das nicht über die kürzeste Route über Ost-Jerusalem tun sondern muss einen weiten Umweg fast an der jordanischen Grenze in Kauf nehmen inklusive der Passierung zahlreicher Check-Points, in der er schickaniert, bewusst provoziert, geschlagen und stundenlang festgehalten und abgewiesen werden kann
- der Anteil der Palästinenser in Jerusalem beträgt ca. 40%, dass städtische Budget sieht für West-Jerusalem aber 8x höhere Mittel vor
- es werden faktisch keine Baugenehmigungen für Palästinenser in Ost-Jerusalem verteilt - dafür aber für jüdische Siedlungen
- Palästinenser aus Ost-Jerusalem, die länger als 3 Jahre im Ausland leben, dürfen nicht mehr nach Ost-Jerusalem zurückkehren
- Schon nach 3 Monaten Abwesenheit kann die Rückkehr in ihr Heim in Ost-Jerusalem von Israel verwehrt werden, unabhängig davon, ob der Palästinenser in Ost-Jerusalem geboren wurde oder schon seit Generationen dort lebt
Nochmal, die Palästinenser sind vielleicht nicht das am stärksten unterdrückte Volk der Welt, vielleicht geht es den Uighuren, Rohingya oder Jemeniten noch beschissener, aber anders als dort werden ihre Besatzer entweder von der UN sanktioniert oder von den Medien abgestraft. Während Saudi-Arabien und Myanmar beispielsweise Igitt sind, Länder, die niemand besuchen will, kritisiert u.a. der Jude und Israeli Moshe Zimmermann, dass es sich "nicht gehört, Israel zu kritisieren" und man aus Angst davor lieber alles rechtfertigt, hauptsache man wird nicht mit der Antisemitismus-Schiene konfrontiert, die das Ende deiner Karriere ist. Würde wie bei anderen besetzen und unterdrückten Völker sich die relevante Politik oder die relevanten Medien dafür einsetzen, wären mir bzw. vielen anderen die Palästinenser mehr oder weniger gleichgültig. Es ist dem aber nicht so.
Ich glaube dir ist nicht bewusst dass sich unsere Ansichten nicht gross unterscheiden, ich finde deine Betrachtung höchst interessant und werde gerne auf die Punkte erneut eingehen. Du pochst (zu einem Teil zurecht) gerne darauf dass die meisten Intellektuellen hinter dem Palästinensischen Befreiungskampf stehen und nur Israels Politik zu Recht kritisieren. Nun gut, der Fall der "neuen" jüdischen Debatte um Antisemitismus ist exemplarisch für die zunehmenden Schwierigkeiten, denen sich Denker in der intellektuellen Arena gegenübersehen, allen voran hier im Westen. Wir sind uns wohl einig, dass Intellektuelle oft darum kämpfen müssen, die moralischen Widersprüche komplexer Realitäten zu verstehen: sprich, in diesem Fall betreibt der Staat Israel eine inakzeptable Politik der Vorherrschaft in den Gebieten, während der Antisemitismus überall auf dem Vormarsch ist, auch leider in Deutschland.
Angesichts dieser widersprüchlichen Realität sollten Intellektuelle das tun, was sie (eigentlich) am besten können: sich für die universalistische Position entscheiden und gleichzeitig sowohl gegen die unerbittliche Beherrschung der Palästinenser als auch gegen den Antisemitismus kämpfen; sehr hart daran zu arbeiten, die Unterscheidungen zu treffen, die Politiker verwischen und verwirren wollen; darauf verzichten, die Meinung eines Gegners in eine Form der Blasphemie zu verwandeln; die Regeln der zivilen Debatte einhalten, anstatt sich auf Ausgrenzung einzulassen.
Nur so können wir uns als Gesellschaft der semantischen und moralischen Verwässerung des Begriffs "Antisemitismus" entgegenstellen. Die Aufgabe der Intellektuellen ist es, uns an die Bedeutung der Sprache im Kampf um die Moral zu erinnern. Sowohl die Wissenschaft von heute die leider nicht immun auf die Politik und Korruption ist, sind die führenden Intellektuellen auch nicht immun auf ihr jeweiliges Weltbild und Ideologie. Der eigentliche Kampf für Gerechtigkeit - sei es gegen den Antisemitismus, gegen die Fremdenfeindlichkeit gegenüber den Muslimen hier im Westen, Sexismus, Rassismus - alles beginnt mit einem Kampf um die richtigen Worte. Wir haben heutzutage leider auch nicht mehr hochgewichtige und visionäre Politiker wie noch im letzten Jahrhundert. Die von heute wirken alle auf mich wie durchschnittliche Bürokraten.
"Mein Problem" zum jetzigen Konflikt mit den Intellektuellen ist, dass viele Kritiker Israels sich zumeist "schuldig machen", indem sie sich a priori auf die Seite der Schwachen und Enteigneten, blind hinter den Palästinenser stellen: indem sie sich weigern, auch Israelis als Opfer zu sehen, indem sie israelische Staatsbürgerschafts-Gesetze als rassistisch abtun, indem sie die realen Gefahren ignorieren, die die Existenz des jüdischen Staates bedrohen, und indem sie Israel für moralische Normen verantwortlich machen, die für andere, ebenso gewalttätige Länder nicht gelten. Sind wir ehrlich, Katar und Saudi Arabien geniessen sicherlich keinen Rückhalt in den Medien, aber sind auf keiner Sanktionsliste zu finden und die UN streicht sie gerne mal von der Blacklist. Und das Waffengeschäft mit der saudischen Monarchie floriert auch prächtig und der Fall Jamal Khashoggi ist auch schnell vergessen. Im Falle Nawalnys zählen auch andere Argumente, ganz im Geiste der Rhetorik während des Kalten Krieges. Russland wird für die Ost-Ukraine und Krim sanktioniert, und Saudi Arabien für Jemen?
Weisst du, ausgefeilte Begriffe wie Boykott, Desinvestition und Sanktionen, die darauf abzielen, den jüdischen Staat zu schwächen und zu demontieren, werden vor allem durch die hochtrabenden Äusserungen von Universitätsprofessoren (Neomarxisten), Kongressmitgliedern, aufstrebenden Politikern, angesehenen Journalisten, die ihre "Unparteilichkeit" zugunsten von Lobby-Arbeit aufgegeben haben, und anderen Spitzen des gesellschaftlichen Einflusses angepriesen haben. Es reicht einfach nicht zu sagen, "die Intellektuellen" sind das Mass aller Dinge. Die utopischen Ideen eines weisen Rates, wie es damals im Alten Griechenland angestrebt wurde, gibt es einfach nicht.
Da du auf Mandela und Südafrika zu sprechen kamst: Unter den Kritikern Israels wird es immer üblicher, den jüdischen Staat zu beschuldigen, die erfolgreich das Apartheid -System Südafrikas imitieren. Die Idee, dass Israel ein "Apartheidstaat" ist, ist ein Grundnahrungsmittel der Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung, die den südafrikanischen Vergleich praktisch zur Lingua Franca des Anti-Israel-Aktivismus gemacht hat und bei vielen Einklang findet.
Die Apartheid in Südafrika hielt Privilegien für die weisse Minderheit aufrecht und verdammte die Schwarze Bevölkerung zur Unterwerfung; sie bestimmte jeden Aspekt des Lebens - die Schule, die man besuchte, die Arbeit, die man tat, wo man wohnte, welches Krankenhaus und welchen Krankenwagen man benutzte, wen man heiraten konnte, bis hin zu der Parkbank, auf der man sitzen konnte, ohne verhaftet zu werden. Verhaftungen von jährlich mehr als hunderttausende Schwarze, die gegen die "Passgesetze" verstiessen, die kontrollierten, wo sie leben und arbeiten durften; das Verhungern in den ländlichen Gebieten, wobei Babys an schwerer Unterernährung starben; die schrecklichen Wohnverhältnisse, Transportmöglichkeiten und Gesundheitsversorgung; Folter durch die Sicherheitspolizei und Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren.
Die Unterschiede beginnen mit "Israel selbst", wie es durch die Grenzen nach den Kriegen von 1948 und 1967 definiert wurde, wo Araber mehr als 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Hier werden die Araber sicherlich diskriminiert. Die meisten Araber sind vom Militärdienst befreit und verlieren dadurch Veteranenleistungen; aber drusische Araber werden wie Juden einberufen, und Beduinen können sich freiwillig melden. Arabische Städte dürfen sich nicht einfach ausdehnen, aber die wachsende Bevölkerung braucht Wohnraum, also bauen die Leute illegal - und dann reisst die Regierung ihre Häuser ab. Und es gibt auch Rassismus, unbestritten - Netanyahu hat vor ein paar Jahren einen unverhohlen antiarabischen Appell abgegeben, als er seine jüdischen Anhänger aufforderte, wählen zu gehen, oder dass Rabbiner Juden dazu aufrufen, keine Immobilien an Araber zu vermieten oder zu verkaufen sollten.
Anders als nicht-weisse Südafrikaner unter der Apartheid haben israelische Araber jedoch das Wahlrecht und geniessen volle Bürgerrechte. Der Oberste Gerichtshof hatte auch schon einen arabischen Richter, Araber leiten Universitätsabteilungen. In Krankenhäusern und Kliniken arbeiten jüdische und arabische Ärzte und Krankenschwestern, säkulare und religiöse, zusammen und versorgen jüdische und arabische Patienten gleichermassen - undenkbar unter der Apartheid. Schau nach Haifa (Musterbeispiel) und du wirst sehen, dass so etwas wie ein "utopisches Miteinander" schon stattfindet.
Keine Frage, Israel macht sich für seine Aktionen im Westjordanland und Gaza angreifbar. Seine Untaten und die Unterminierung der Zwei-Staaten-Lösung durch den Siedlungsbau bieten reichlich Munition für Kritiker. Was die B.D.S.-Bewegung als "Apartheidmauer" bezeichnet - handelt es sich in Wirklichkeit hauptsächlich um einen Drahtzaun, ausser in bewohnten Gebieten - dass aus Sicherheitsgründen zwischen Israel und dem Westjordanland errichtet wurde, vor allem um potenzielle Selbstmordattentäter fernzuhalten. Bedauerlicherweise wurde die Mauer, als sie gebaut wurde, auch zu einem Mittel, um zusätzliches palästinensisches Land im Westjordanland einzuschliessen und an sich zu reissen. Das war hässlich und raffgierig, aber es hat nichts mit Rassentrennung im Stil der Apartheid zu tun.
Viele verweisen auf die Boykotte, weil man damit auch die Apartheid-Politik in Südafrika zu Fall gebracht, und argumentiert, dass dies der Weg sei, Israel anzugreifen. Dieser Glaube ist vereinfachend und schlicht falsch. Obwohl Boykotte sicherlich wichtig waren, waren sie nicht so entscheidend. Eine Kombination von Faktoren setzte das "weisse Südafrika" unter Druck, die Macht abzugeben. Der wichtigste war das Ende des Kalten Krieges, was bedeutete, dass, während die schwarzen Befreiungsbewegungen die sowjetische Unterstützung verloren, die Weissen den entscheidenden Rückhalt ihrer antikommunistischen westlichen Gönner verloren und fiel wie ein Kartenhaus zusammen.
Während des jahrelangen Freiheitskampfes in Südafrika verzichtete der ANC, der jetzt an der Regierung ist, bis auf wenige Ausnahmen auf Gewalt gegen weisse Zivilisten, obwohl die Farmer der Gewalt ausgesetzt sind, meist durch einfache Zivilisten. Dies war zum grossen Teil eine strategische Entscheidung, um die Weissen nicht zu verängstigen, damit sie sich weigern, die Macht abzugeben. Selbstmordattentate und Morde durch Rammen von Fussgängern mit Fahrzeugen gab es in Südafrika nie. Doch in Israel gab es sie zuhauf. Sicherheitsbedenken haben Israels Vorsichtsmassnahmen und Reaktionen diktiert, nicht eine Ideologie des Apartheid-Rassismus.
Die südafrikanische Apartheid setzte die Rassengesetze rigide durch. Israel ist nicht im Entferntesten vergleichbar.