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[Sammelthread] Welcome to Kurdistan

Gonzo, hast du auch 'philosophische Depressionen' erlitten?

Ich bete 24 mal am Tag. Da habe ich für sowas keine Zeit.
Vergiss das Dr. nicht.
Gonzo dürfen mich nur meine Freunde nennen oder mir wohlgesonnene Menschen.

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In der sonntäglichen Mittagshitze steht Ahmet, der seinen richtigen Namen lieber nicht nennt, auf einem Dach in Sur, der Altstadt von Diyarbakir, und beobachtet, wie Bagger sein Haus demolieren. An einer Wäscheleine hinter ihm trocknen, wie Perlen aufgereiht, Auberginen und Paprika. Staub steigt auf, als eine Wand krachend zusammenbricht.
„Es ist das zweite Mal, dass ich denen dabei zuschaue, wie sie mein Haus abreißen“, sagt der 33-Jährige. Beim ersten Mal war er neun Jahre alt. Damals, in den 90er Jahren, als der Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans, der PKK, seinen Höhepunkt erreicht hatte, brannten Soldaten sein Dorf nieder. Zusammen mit Tausenden zog seine kurdische Familie nach Sur: „Wir haben alles zurücklassen müssen. Ich hatte nicht mal Schuhe, als wir in Diyarbakir ankamen.“ Ahmet schaut an sich herab. „Wenigstens die habe ich diesmal retten können.“

Erdogan verlängert Ausnahmezustand

In dieser Woche kündigte Staatspräsident Erdogan an, den Ausnahmezustand bis ins nächste Jahr verlängern zu wollen. Begründet hat er das mit dem Putschversuch vom Juli. Erdogan hatte im Südosten auch Bürgermeister wegen mutmaßlicher Unterstützung der PKK entlassen und durch Zwangsverwalter ersetzt. Betroffen sind meist Gemeinden, denen die prokurdische, linke HDP vorsteht. Der bislang legalen Partei werfen Islamisten und Konservative vor, militante Kurden zu unterstützen.
Ahmets Familie verließ auf Anweisung der Polizei im November ihr Haus, sie kamen bei Verwandten unter. Kaum eine Tasche, erzählt er, hätten sie packen können. Unter der Woche verkauft Ahmet im Stadtzentrum gekühlten Süßholzwurzelsirup, eine regionale Spezialität. Im Monat verdient er damit 500 Türkische Lira, knapp 150 Euro. Was er im Winter machen wird, weiß er nicht.
In Ankara hat die islamische AKP-Regierung angekündigt, Sur erneuern zu lassen. Dabei zählen Teile der Altstadt zum Unesco-Weltkulturerbe. Ahmet befürchtet, dass er nicht zurückkehren kann: „Reiche Leute werden nach Sur ziehen. Wie sollte ich mir so ein renoviertes Haus leisten können?“ Den Bewohnern bietet die Regierung Neubauwohnungen am Stadtrand zum Kauf an. Für die zerstörten Häuser soll es Entschädigungen geben, wie viel, weiß niemand. Damit ist Ahmet nicht einverstanden. „Alles, was ich will, ist mein Haus“, sagt er. Der Staat solle sich nicht einmischen – er wolle weder deren Geld, noch deren Neubauwohnung. „Wenn es sein muss, baue ich lieber ein Zelt auf den Ruinen auf, als Sur zu verlassen.“ Ahmet ist wütend und fassungslos über das weltweite Desinteresse an der Lage der Kurden in der Türkei. Er nickt mit dem Kopf in Richtung der zerstörten Altstadt. Bauarbeiter werfen Teppiche und Bettzeug von einem Gebäude. Die Bagger schieben den Bauschutt zu einem Haufen zusammen. „Hier sieht es aus wie in Syrien“, sagt er. „Was ist mit den Menschenrechten, gelten die für uns nicht?“
Wie viele Kurden in der Türkei fühlt sich Ahmet von der Europäischen Union alleingelassen. „Die haben uns für die Flüchtlinge verkauft.“ Er meint das Asyl-Abkommen zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Erdogan. Immerhin wurde HDP-Chef Selahattin Demirtas am Donnerstag in Berlin von Außenminister Frank-Walter Steinmeier empfangen. In der Türkei droht Demirtas eine Haftstrafe.
Die meisten Läden entlang der Hauptgeschäftsstraße in Diyarbakir sind zwar wieder geöffnet, doch die Hälfte der Altstadt ist gesperrt. Gassen sind durch Polizeigitter blockiert und mit Plastikplanen verhängt. Betonblöcke versperren die Tore der antiken Stadtmauer. Türkische Fahnen wehen von Minaretten und Gebäuden. Gepanzerte Polizeifahrzeuge patrouillieren durch die Straßen.
http://www.tagesspiegel.de/themen/r...llen-bleiben-trotz-buergerkrieg/14630616.html
 
[h=1]Allein unter Türken: Die Hölle als Kurde in der Türkei zu leben[/h]
Von dem Moment an, in dem du in der Türkei kurdisch sprichst, bist du im Nachteil. Von den großen türkischstämmigen Städten im Westen des Landes bis zu den vor allem kurdischen Regionen im Südosten ist die kurdische Sprache eingebettet in eine Geschichte der Erniedrigung.
Vor ein paar Jahren habe ich eine Frau in Kanada getroffen, die sich mir als Türkin vorstellte. Hinterher vertraute sie mir an, dass ihr kurdischer Vater nicht wollte, dass sie Kurdisch lerne, damit sie ein besseres Leben führe als er. Erst nachdem ich ein Jahr lang selbst im Südosten der Türkei verbracht habe (oder in Nordkurdistan, wie Kurden die Region nennen), habe ich verstanden, wie weit dieses Denken die Kurden in der Türkei geprägt hat.
Im September 2014 kam ich in Mardin an. Ich sprach kein türkisch, meine Kollegen von der Mardin Artuklu Universität versicherten mir aber, dass ich mich problemlos in kurdisch verständigen könne. Zu diesem Zeitpunkt war Nordkurdistan nach jahrzehntelangem Krieg und Türkisierung wieder auferstanden.
Proteste wegen der zögerlichen Friedensverhandlungen zwischen der kurdischen Arbeiterpartei PKK und Erdogans regierenden Partei AK machten 2013 den Weg frei zu einem "Demokratie-Paket", das die Dekriminalisierung der kurdischen politischen Rede, der kurdischen Buchstaben sowie Sprachunterricht in privaten Schulen vorsah.
[h=2]Kurdische Aktivisten und Intellektuelle sprachen türkisch[/h]Nur fünf Monate bevor ich hergekommen bin, wurden eine junge syrische Frau und ein ehemaliger kurdischer Aktivist von der pro-kurdischen Friedens- und Demokratiepartei (BDP) für das Amt des Vize-Bürgermeisters zur Wahl gestellt.
Es war vor allem aufregend, zu dieser Zeit in der Region zu sein, aber die Wunden der ein Jahrhundert lang andauernden Türkifizierung sind tief. Taxifahrer, Ladenbesitzer und Angestellte im öffentlichen Dienst in Mardin waren verwirrt, wenn ich darauf bestand, kurdisch zu sprechen.
Die meisten erwachsenen Kurden, die ich in Mardin traf, konnten wenigstens etwas kurdisch sprechen, wenn auch nicht freiwillig. Nur wenige sprachen von sich aus kurdisch. Manche fanden meine Unfähigkeit, türkisch zu sprechen, niedlich - sie verbanden es mit ihren Großeltern oder Bewohnern eines abgelegenen Dorfes. Andere fühlten sich unwohl, besonders in Gegenwart von Türken oder Arabern.
Sogar kurdische Aktivisten und Intellektuelle sprachen türkisch unter sich, was für mich in Verbindung mit der Tatsache, wie selbstbewusst und furchtlos sie für die Rechte der Kurden eintraten, eine Quelle ständiger Verwirrung darstellte.
[h=2]Mit der Türkisierung kommen Privilegien[/h]Noch trauriger war es zu sehen, dass die Kinder dieser Aktivisten und Intellektuellen kein Kurdisch lernten, nicht einmal zu Hause. Mit anderen Worten: Der Teufelskreis, Kindern den Zugang zu einer Sprache zu verweigern, die ihnen lediglich Leid und Unglück bringen würde, hält an.
Mit der Türkisierung kommen Privilegien, und Privilegien sind es, die Eltern für ihre Kinder möchten. Auf den ersten Blick scheint es, dass die vom Staat ausgehende Türkisierung des Landes ein voller Erfolg war: Kurdisch stirbt aus.


Während ich immer noch über diesen Verlust trauerte, habe ich übersehen, dass die Generationen von Kurden, denen von Seiten des Staates und oft auch ihrer Familien der Zugang zum Kurdischen verweigert wurde, eine neue Auffassung des Kurdischen entwickelt haben - unabhängig von der Sprache.
Ausgebildet in türkischen Universitäten und bewaffnet mit der Sprache der Begünstigten, anstatt der Unterdrückten, haben diese Generationen die kurdische Bewegung gegen die türkische Auslöschungspolitik gestärkt.
[h=2]Türkisch sprechende Kurden werden sichtbar[/h]Viele, die diese Bewegung anführen, sind weder in traditionellen kurdischen Gemeinden aufgewachsen, noch sprechen sie kurdisch. Dennoch stehen sie für populärste pro-kurdische Bewegung in der Geschichte der Türkei und Diversität ein
In den späten 70ern und frühen 80ern, also in der bevorstehenden Blütezeit der staatlichen Türkifizierung, trat ein neues, revolutionäres Thema in Erscheinung. Die Tatsache, dass türkisch sprechende Kurden sichtbar wurden und damit auch deren sprachlicher Vorteil, rückte die kurdische Identität in ein weit positiveres Licht.



Dennoch sollte man nicht vergessen, dass diese Zweisprachigkeit auf einer Basis von sozialer und politischer Ungerechtigkeit gebildet wurde, verstärkt von einer Identitätskrise. Dieses neue Thema stellte das bisherige, unterdrückende Wertesystem auf den Kopf.
Gultan Kisanak, die alevitisch-kurdische Frau, die seit 2014 die Vize-Bürgermeisterin von Diyarbakir war und am 25. Oktober dieses Jahres festgenommen wurde, ist ein nennenswertes Beispiel und brisantes Thema im Zusammenhang mit der kurdischen Politik.
[h=2]Aus Demut wurde eine Freiheitsbewegung[/h]Andauernd verfolgt wegen ihrer Volkszugehörigkeit wurde Kisanak das erste Mal 1980 im Alter von 19 gefangen genommen, zusammen mit tausenden weiteren Kurden aus Diyarbakir. Sie wurde gefoltert und sechs Monate lang gemeinsam mit einem aggressiven Schäferhund in einen Käfig eingesperrt, weil sie sich weigerte, zu sagen: "Ich bin keine Kurdin, ich bin Türkin." Kisanak und weitere Frauen im Gefängnis wurden sexuell missbraucht - eine Taktik, die häufig gebraucht wurde, um kurdische Frauen zu "entehren".


Solche barbarischen Methoden, um diesen und weiteren Frauen (und Männern) ihre Ehre zu rauben, ihren Willen zu brechen, rächen sich nun. Sie haben nicht nur jahrelange Gefängnishaft und Folter überlebt, sondern sie haben das Gefühl der Demut zu einer Freiheitsbewegung gewandelt.

Die Pro-kurdische, Pro-Minderheiten-, Pro-Frauen-, Pro-LGBTQ-Bewegung ist ein natürlicher Zufluchtsort für alle Unterdrückten der Türkei geworden. Von Campus bis Cafés: Die öffentlichen Räume von Nordkurdistan werden geprägt von denen, für die Widerstand ein Lebensstil ist, eine Art und Weise, zu existieren.

Allein unter Türken: Die Hölle als Kurde in der Türkei zu leben | Saladdin Ahmed
 
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