http://www.welt.de/data/2006/10/14/1070393.html
Neues Gesetz
Armenier kritisieren Frankreich
Das gerade erst verabschiedete Völkermord-Gesetz empfinden die Armenier als kontraproduktiv. Türkische Verbraucher wollen als Reaktion auf den Beschluss der Nationalversammlung französische Produkte bokottieren.
Von Boris Kalnoky
Istanbul - Nicht nur die Türkei, sondern auch viele europäische Politiker haben kritisch auf den Beschluss des französischen Parlaments reagiert, das "Leugnen" des armenischen "Genozids" unter Strafe zu stellen. Von türkischer Seite wurde eine Lawine wirtschaftlicher Konsequenzen in Aussicht gestellt: Boykott französischer Produkte, Ausschluss Frankreichs bei internationalen Ausschreibungen staatlicher Großaufträge, Abbruch wirtschaftlicher Partnerschaften auf Unternehmensebene - wenn all das wahr wird, dann muss Frankreichs Wirtschaft einen empfindlichen Schlag verkraften. Das Parlament soll am Dienstag zu einer außergewöhnlichen Sitzung zusammentreten, um über konkrete Maßnahmen zu beraten. Als sicher gilt der Ausschluss französischer Firmen von staatlichen Ausschreibungen, etwa beim geplanten Bau des ersten türkischen Atomkraftwerks.
Bereits jetzt hat der Verband Muslimischer Unternehmer (Müsiad) zum Boykott aller französischen Produkte und seine Mitglieder zum Abbruch aller Kontakte mit französischen Geschäftspartnern aufgerufen. Die Handelskammern der Städte Trabzon und Malatya kündigten Kampagnen an, alle französischen Produkte aus den Regalen zu nehmen.
Auch der türkische Verbraucherverband hatte einen Boykott französischer Produkte angekündigt. Das könnte wehtun, wenn kein Türke mehr Renault kauft - das gemeinsam mit dem türkischen Militär betriebene Renault-Werk in Bursa ist eines der größten in Europa.
Konkret aber soll wohl vorerst nur jede Woche ein einziges Produkt boykottiert werden. Also diese Woche vielleicht Danone-Joghurt und danach Cognac. Sollte der Boykott irgendwann auch teure Produkte wie Renault-Autos betreffen, muss der Kunde halt eine Woche später kaufen. Ähnlich zaghaft geht es auch bei anderen Patrioten der türkischen Wirtschaft zu. Der Verband der Textilunternehmer der Ägäisküste hat angekündigt, nicht mehr an französischen Fachmessen teilnehmen zu wollen.
Im Jahr 2001, als Frankreich den "Genozid" an den Armeniern gesetzlich anerkannte, gab es bereits ähnliche Drohungen aus Ankara. Diesmal liegen die Dinge etwas anders, es scheint eine echte gesellschaftliche Bewegung zu geben, die aber eher mittelständische Unternehmen erfasst.
Sowohl die armenische Kirche als auch das letzte Armenierdorf in der Türkei (Vakifli) haben Frankreich vorgeworfen, mit dem Gesetz ihren Interessen geschadet zu haben, und auch aus Armenien selbst ist Unverständnis zu vernehmen. Denn die seit Längerem laufende Politik Ankaras, hinter den Kulissen still nach Möglichkeiten einer Annäherung an Armenien zu tasten, dürfte jetzt ein Ende finden.
Es wird künftig auch der EU schwerer fallen, in der Türkei auf Fortschritte bei der Meinungsfreiheit zu pochen. Ankara wird fortan schlicht auf das französische Gesetz verweisen, um eigene rechtliche Tabuzonen im gesellschaftlichen Diskurs zu verteidigen.
Besonders erzürnt ist man, weil das französische Gesetz formal einen Vergleich mit dem Holocaust der Nazis im Zweiten Weltkrieg herstellt. Das Abstreiten beider Völkermorde wird mit denselben Strafen belegt, und es sind die beiden einzigen Völkermorde, deren Abstreiten bestraft wird. Der Holocaust richtete sich aus rassistischen Gründen gegen eine Bevölkerung, die friedlich und "unschuldig" war.