[h=2]Wie Al-Qaida sich in Syrien spaltet[/h] 	 Ghiath Bilal
 	
	Kann  es eine reformfähige Al-Qaida geben? Kämpfe an der syrisch-irakischen  Grenze und der Tod eines Dschihadismus-Urgesteins belegen die Spaltung  innerhalb der Extremisten. Wer daraus Konsequenzen zieht, bekämpft das  Übel an der Wurzel.
 	
	 	Seit Donnerstag, dem 10. April 2014 toben um Al-Bukamal an der  syrisch-irakischen Grenze Gefechte zwischen zwei dschihadistischen  Gruppierungen: der Nusra-Front und »Al-Qaida im Irak und in Großsyrien«  (ISIS). Dem vorausgegangen war ein kühner, für ausländische Beobachter  schwer verständlicher Schritt: ISIS sagte sich von dem weltweiten  Al-Qaida-Führer und Bin-Laden-Nachfolger Aiman al-Zawahiri los und  erklärte diesen zum Verräter. Das ist die bisher höchste  Eskalationsstufe eines inneren Konfliktes der Dschihadisten. Aber  bereits seit Wochen zeichnet sich diese Entwicklung ab. 
  
 Am 23. Februar 2014 machte die Nachricht vom Tod des in Syrien  kämpfenden Abu Khaled al-Suri in der arabischen Presse die Runde. Die  USA hatten den Al-Qaida-Mann an die Spitze ihrer Liste der  meistgesuchten Personen gesetzt. Fünf Millionen Dollar winkten  demjenigen, der entscheidende Hinweise liefern konnte. Aber Abu Khaled  starb nicht etwa durch eine amerikanische Drohne. Er kam stattdessen bei  einem Selbstmordattentat der gefürchteten Qaida-Gruppe ISIS ums Leben.  Wer war nun dieser Mann? Und warum wurden aus den bisherigen Freunden  Feinde, die ihn nun auf dem Gewissen haben? 
  
 In Syrien kämpfen gegenwärtig zahlreiche islamistische Organisationen  gegen das Regime. Einige davon gelten als sehr radikal. Ihre Anhänger  stellen gleichwohl nicht die Mehrheit dar. Jedoch zeichnen sie sich  durch eine hohe Effektivität aus, die allem Anschein nach aus einem  unerschütterlichen Glauben und Willensstärke herrührt. Zudem verfügen  sie über zahlreiche internationale dschihadistische Finanzquellen aus  gut funktionierenden, versierten und höchsterfahrenen Netzwerken. 
 [h=3]Al-Qaida streitet darüber, wen man zu Ungläubigen macht[/h] Die wohl wichtigste dieser Organisationen ist ISIS, der frühere  Ableger der Qaida, die sie aber heute bekämpft. ISIS entstand im April  2013 und verfügt insgesamt über 3.000 bis 7.000 Kämpfer. Ihre zumeist  ausländischen Anhänger haben bereits große Erfahrungen in  Guerilla-Kriegen aus Afghanistan, Tschetschenien und dem Irak und gelten  daher als kriegserprobt. Des Weiteren grenzen sie sich in Syrien vom  Rest der Qaida durch besonderen Fanatismus und eine niedrige  Hemmschwelle bei der Tötung von Zivilisten ab. 
  
 Dies veranlasste Qaida-Chef Aiman al-Zawahiri dazu, 
zwei Audiobotschaften via 
YouTube zu veröffentlichen, in denen er ISIS einen falschen Dogmatismus vorwarf und ihre Auflösung forderte.  
  
 Die ISIS-Anführer werden von der Vorstellung einer islamischen  Herrschaft geleitet. Dabei greifen sie beispielsweise auf das mehr als  1.000 Jahre alte Strafrecht voller drastischer Maßnahmen zurück. Dennoch  verfolgen sie andererseits die Vorstellung eines totalitären  »Nationalstaates«. 
 [h=3]Abu Khaled war ein Veteran des globalen Dschihads. Wurde er am Ende zum Reformer?[/h] Die vielleicht folgenreichste Konsequenz dieser Schreckensherrschaft  ist die Tatsache, dass man jeglichen politischen Zwiespalt in einen  religiösen umwandelt. Daraus resultiert das Prinzip des »takfir«, der  Exkommunikation. Demnach erklärt man das Vergießen des Blutes und die  Versklavung von Ungläubigen für »halal«. 
  
 Infolgedessen hat ISIS mehrere Anführer anderer islamistischer  Organisationen ermordet, was zu heftigen Kämpfen ab Januar 2014  innerhalb der Reihen der Assad-Gegner führte. Seitdem geriet ISIS  überall in die Defensive und musste mehrere Stellungen in syrischen  Städten räumen. Bei den Kämpfen verloren beide Seiten insgesamt mehr als  3.000 Menschen. Dem Assad-Regime wurde damit ein Widererstarken  möglich. 
  
 Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang einige Dokumente, die in Aleppo bei der 
Erstürmung eines ISIS-Quartiers gefunden wurden und  die nahelegen, dass die Gruppe sogar Kontakte zum iranischen sowie dem  russischen Geheimdienst unterhielt, womöglich sogar von diesen  unterwandert ist. Zumindest sind viele Rebellen davon überzeugt; die  Indizien belegen, dass es sich um mehr handelt als um eine  Verschwörungstheorie.
 
 Des Weiteren ist eine Koordination zwischen Dschihadisten und dem  syrischen Geheimdienst wahrscheinlich. So wurden Rebellen gezielt aus  der Luft bombardiert, ISIS-Truppen blieben dabei unbehelligt. Ferner  wurden zwischen Mai und Dezember 2013 acht Autobomben gegen Ziele des  Regimes gezündet – wohingegen ISIS andere islamische Brigaden mit allein  
56 Autobomben in nur zwei Wochen attackierte. 
  
 Die Aktivisten berichteten zudem von vier gescheiterten Versuchen,  den Anführer der Nusra-Front, Abu Muhammad Al-Julani, zu ermorden.  Dieser sah sich gezwungen, Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die nicht  einmal während der amerikanischen Invasion des Irak erforderlich waren,  wo er ebenfalls mitkämpfte. 
  
 Wer ermordete nun Abu Khaled al-Suri? Abu Khaled oder Abu Umayr  al-Shami sind Decknamen des in Aleppo geborenen Muhammad Bahaya. Er  verbrachte rund 40 Jahre auf den dschihadistischen Schlachtfeldern:  Afghanistan, Bosnien, Tschetschenien, Irak und Syrien. Bahayas Dschihad  begann Anfang der 1980er Jahre in Syrien. In Afghanistan zählte er zum  näheren Umfeld des berüchtigten Scheichs Abdallah Azzam. Azzam galt als  Vater und zentrale Figur des Widerstands im Krieg gegen die Sowjets.  Zeitweilig diente er als Leutnant Osama bin Ladens im pakistanischen  Peschawar. Später wurde er die rechte Hand des gefürchteten Terroristen  Abu Musab al-Zarqawi und seines Nachfolgers Abu Omar al-Baghdadi im  Irak. 
  
 Aus dschihadistischen Kreisen hieß es jedoch, Abu Khaled al-Suri sei  der Qaida nie organisatorisch beigetreten. Jedoch sah er keinen  Widerspruch darin, an deren Operationen und Kriegen in Afghanistan und  im Irak teilzunehmen. Nach Beginn der syrischen Revolution trat er den  kämpfenden islamischen Einheiten bei, nachdem er am 17. Dezember 2011  aus einem syrischen Gefängnis entlassen worden war – denn die dortigen  Behörden hatten ihn 
nach seiner Rückkehr aus dem Irak festgenommen. 
  
 Qaida-Chef Zawahiri ernannte Abu Khaled al-Suri bald zu seinem  Delegierten, um die entstandenen Streitigkeiten zwischen Abu Bakr  al-Baghdadis ISIS und Abu Mohammed al-Julanis Nusra-Front zu beenden.  Dabei verlangte Abu Khaled al-Suri, ISIS solle entweder Syrien verlassen  oder sich den Nusra-Brigaden unterordnen, was Baghdadi entschieden  ablehnte. Das Ergebnis waren Liquidierungskriege zwischen den  islamischen Fraktionen auf der einen und ISIS auf der anderen Seite. 
 [h=3]ISIS verlor den Segen Zawahiris[/h] Abu Khaled galt als einer der bekanntesten Anführer des globalen  Dschihad. Er begann vor Jahren damit, sich zusammen mit anderen Syrern  wie Abu Basir al-Tartusi und Abu Musab al-Suri mit der Bewertung  religiöser Normen der Qaida zu befassen. Sie lehnten zum Beispiel  Bombenangriffe ab, die zu zivilen Opfern führen. 
  
 Am 14. Januar 2014 veröffentliche Abu Khaled al-Suri ein 
Statement auf YouTube:  Man solle im Kampf auf lokale, syrische Kräfte setzen und sich mit  anderen Einheiten abstimmen. Des Weiteren rief er am Ende seines  Vortrags Zawahiri dazu auf, sich von ISIS und ihren Taten loszusagen –  wortwörtlich: »Konzept und Methoden des Dschihad bedürfen in der  heutigen Zeit einer Reformation.«  
  
 Aus den oben genannten Gründen rechnen einige Dschihadisten Abu  Khaled al-Suri sogar zu den Reformern, die versuchen, Al-Qaida zu  mäßigen und zu einer weniger ruchlosen Organisation zu machen. Dies  führte zwangsläufig zu einem Riss in der Basis ihrer Anhängerschaft.  ISIS ist ein Resultat dessen. Ihr syrischer Ableger beheimatet heute  arabische und ausländische Kämpfer, die diese Erneuerung ablehnen, etwa,  »Tötungen stets infrage zu stellen, bevor diese vollzogen werden.« In  ihren Augen sind Abu Khaled al-Suri und seinesgleichen deshalb selbst  »kuffar«, also Ungläubige. Diese Haltung führte dazu, dass drei  ISIS-Selbstmordattentäter Abu Khaled al-Suris Hauptquartier in Aleppo  stürmten. Sie töteten ihn zusammen mit sechs seiner Kameraden. 
  
 Am 22. März 2014 gab Al-Qaida in einer Erklärung bekannt, man habe sich von ISIS endgültig losgelöst. Dies haben Experten als 
Vorboten eines heftigen Krieges zwischen ISIS und dem Rest der islamistischen Formationen interpretiert. 
  
 Dass diese Vermutung zuzutreffen scheint, belegt die letzte Videobotschaft Zawahris, die von 
sahab.org am 4. April 2014 veröffentlicht wurde: zum Gedenktag von Abu Khaleds Tod. 
In diesem Video ruft Zawahiri seine Anhängerschaft auf, ISIS nicht zu unterstützen. 
  
 ISIS antwortete mit einem überaus spektakulären Schritt: Zawahiri sei  ein Verräter, heißt es nun in einer Stellungnahme vom 10. April 2014.  Abu Ibrahim al-Mouselli – ein bekannter ISIS-Offizier – 
erklärt dies auf der Plattform Al-Manbar Al-Ilami Al-Jihadi. Zawahiri habe seine Legitimität als Führer durch seinen »Verrat« verloren, sagte Mouselli. Zugleich 
beschimpfte er die Nusra-Front und deren Kommandeur Julani als »Marionetten der Ungläubigen«.  
 [h=3]Der Dschihad-Salafismus hätte aus Syrien Kapital schlagen können[/h] Ohne Zweifel stellt die Qaida eine extremistische Organisation dar,  deren Verständnis vom Islam, gelinde gesagt, als verzerrt zu beschreiben  ist. Jedoch ist sie nicht mehr identisch mit jener Organisation, die am  11. September 2001 die Anschläge von New York und Washington plante und  durchführte. Die Zentrale der Qaida wurde infolge dessen immens  geschwächt. Wir reden heute aber bereits von ihrer dritten Generation –  und einer neuen Führung. 
  
 Al-Qaida ist nicht mehr enggeknüpft an ihren charismatischen Anführer  Bin Laden – eine Eigenschaft, die Zawahiri völlig vermissen lässt.  Diese Konflikte spiegeln sich heute in einer beispiellosen und  öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzung innerhalb der Qaida wider.  Organisationen, die sich auf eine bestimmte Weltanschauung berufen, auch  wenn diese extrem ist, können nicht ohne weiteres militärisch bekämpft  werden, wie es bei kriminellen Banden oder Drogenkartellen der Fall ist.  Denn ihre Ideologie beschert ihnen stets Ressourcen und personellen  Zulauf. 
  
 Der Tod Abu Khaleds und die Kämpfe an der syrisch-irakischen Grenze  halten womöglich eine wichtige Erkenntnis bereit: Die Zersplitterung bei  ISIS zeigt, dass der interne Kampf den Extremisten größeren Schaden  zufügt als militärische Operationen oder Drohnenangriffe. Wer daraus  Konsequenzen zieht, behandelt das Problem an der Wurzel, nicht an seinem  Erscheinungsbild. 
  
 Die Erfahrung zeigt ferner, dass der globale dschihadistische  Salafismus eine echte strukturelle Krise durchlebt – und das, obwohl es  in Syrien wohl die Gelegenheit für seine Expansion gegeben hätte.  Interne, radikale und blutige Differenzen haben diese jedoch verhindert.  Die Überheblichkeit der »Wissenden«, wie die Anhänger des  dschihadistischen Salafismus sich selbst bezeichnen, gegenüber den  anderen Muslimen hat dazu beigetragen, dass aus den Freunden von gestern  die Feinde von heute wurden.
zenith: Wie Al-Qaida sich in Syrien spaltet