1160 Wien und die Integrationsgleichung
Veranstaltungen ohne Ende zwischen Kunst, Yoga-Gruppe und politischer Debatte fördern die Dauerselbstthematisierung des Lebens in 1160 Wien. Ottakring, konkreter das Viertel Neulerchenfeld, ist auch dank medialer Unterstützung fast schon zum Synonym für Integration in Wien geworden.
Dabei sagt ein nüchterner Blick in die Statistik: Ottakring ist mitnichten der Wiener Bezirk mit dem höchsten Anteil an Ausländern oder Österreichern mit Migrationshintergrund. Ottakring ist, wie ein Blick in die Geburtenstatistik zeigt, der Bezirk, der sich am stärksten vermehrt (auf 94.736 Einwohner kamen 2009 1.105 Neugeborene). Ottakring rangiert bei der Ausländerquote auf Platz fünf. Am höchsten ist sie im benachbarten Rudolfsheim-Fünfhaus. Doch wer spricht von Rudolfsheim-Fünfhaus in den Medien?
Ausländeranteil und Stimmverhalten
Wer meint, dass in jenen Bezirken mit der höchsten Ausländerquote auch der Anteil der Wählerstimmen für eine rechts positionierte Fremdenpolitik qua Automatismus am höchsten ist, den belehrt ein Blick in die Statistik eines Besseren. In Simmering, das eine geringere Ausländerquote als Wien-Währing aufweist, kam die FPÖ bei der Gemeinderatswahl 2010 auf einen Stimmenanteil von 37,2 Prozent. In Währing hatte die FPÖ 16,9 Prozent. In Favoriten, das bei der Ausländerquote auch hinter Währing liegt, erreichten die Freiheitlichen 34,8 Prozent.
In Ottakring legte die FPÖ mit ihrem klar gegen die bisherige Ausländerpolitik positionierten Wahlkampf um fast zehn Prozent zu und kam auf einen Stimmenanteil von 25,7 Prozent (gegenüber 15,8 Prozent 2005). Seitdem sind die Freiheitlichen im ehemaligen Arbeiterbezirk Ottakring klar die zweitstärkste Partei (während davor ÖVP, FPÖ und Grüne beim Stimmenanteil ungefähr gleichauf lagen).
ORF.at/Patrick WallyEin Ort für alle? Integrationszone Yppenplatz: Im „Idyll für eklektische Besserverdiener“ („Zeit“) wirken viele unsichtbare Grenzen
Yilmaz statt Czerny
Wo heute die Familie Yilmaz aus Anatolien lebt, stellten einst Familien mit den Namen Czerny, Prohaska und Co. den größten Anteil der Zugezogenen. Nur in Favoriten wohnten im 19. Jahrhundert mehr Tschechen als in Ottakring. Politisch ist der einstige Arbeiter- und Handwerkerbezirk Ottakring traditionell ein „roter“ Bezirk, wobei die KPÖ unter Theobald Wiesinger 1945 und 1946 den ersten Bezirksvorsteher der Stadt stellte. Ottakring lag damals in der französischen Besatzungszone.
Legendär als Bildungseinrichtung ist das Volksheim Ottakring, das heute die Volkshochschule Ottakring beheimatet: Die Anfang des 20. Jahrhunderts von Ludo Moritz Hartmann und Emil Reich gegründete Erwachsenenbildungseinrichtung war in der Zwischenkriegszeit von großer kultureller und politischer Bedeutung. In ihr bildeten sich Autodidakten wie Fritz Hochwälder und Alfons Petzold. Unter Viktor Matejka war das Volksheim ein Zentrum oppositionellen Denkens gegen den autoritären Ständestaat.
Wikipedia/EknufEin Bezirk und seine zwei ungleich großen Teile: viel Ottakring und ein bisschen Neulerchenfeld
„Republik Bionade“
Ottakring hat sich zur Gegenwart hin stark gewandelt. Als „neue Republik Bionade“ bezeichnete die „Zeit“ vor zwei Jahren den 16. Wiener Gemeindebezirk und zielte dabei auf das Schickwerden von Neulerchenfeld bei einer jungen Generation, die in einem Viertel heimisch wurde, wo sonst türkische Lokale und Haushaltswarengeschäfte das Straßenbild geprägt haben.
Turia und KantAm 8. September stellt die Gebietsbetreuung Ottakring ihr Buchprojekt „Balkanmeile Ottakringer Straße“ vor. Der „Reiseführer“, der mehr eine mikrosoziologische Feldanalyse ist, soll eine Bestandsaufnahme zum Leben und Sozialprozessen in Ottakring bieten.
Die Aspekte zwischen zuziehender Bevölkerung und dem schon eigentlich als eingesessen zu beizeichnenden Mix an verschiedenen Kulturen zwischen Thalia- und Ottakringer Straße nimmt der nun erscheinende „Reiseführer“ „Balkanmeile Ottakringer Straße“ in den Blick, der nicht nur am Beispiel der einst als „gefährlichste Straße Wiens“ verschrienen Ottakringer Straße zeigen will, dass Stadtentwicklung, wie die Mitherausgeberin Elke Krasny schreibt, „nicht nur eine physisch-technische Angelegenheit, sondern in hohem Maß auch eine kulturelle ist“.
Im Zentrum der Untersuchung zu den Entwicklungen im Bezirk steht das Stadtforschungsprojekt „Reisebüro Ottakringer Straße“, das im Rahmen der letzten SOHO-in-Ottakring-Aktion ins Leben gerufen wurde und verschiedene Diskussionsveranstaltungen zum Thema kulturelle und vor allem soziale Wandlungsprozesse im Bezirk angestoßen hat. Eng gekoppelt sind die Aktivitäten des „Reisebüros“ an die Gebietsbetreuung für den 16. Bezirk.
Kann nur Elite den Wohnort frei wählen?
Für Werner Binnenstein-Bachstein, der als Generalsekretär der Caritas Wien und Initiator von interkulturellen Einrichtungen wie der „Brunnenpassage“ in dem Band zu Wort kommt, ist die Problematik: „Das migrantisch Normale, das 30 Prozent in dieser Stadt ausmacht, ist nicht normalisiert, weil es nicht in allen Gesellschaftsschichten vorhanden ist und auch nicht sichtbar wird wie in anderen Städten.“ In Österreich fehle es bei diesem Thema generell oft an brauchbaren Konzepten, auch wenn die Stadt Wien vergleichsweise viel für Integration leiste.
Reisebüro Ottakringer Straße/dasviaduktLiebesgrüße aus Ottakring - Aktion des „Reisebüros Ottakringer Straße“
Für Binnenstein-Bachstein bleibt etwa die Wahlfreiheit, „in welchem Stadtteil man wohnt, Eliten vorbehalten“. Nicht zuletzt in Ottakring spricht die Geschichte des Zuzugs in den letzten Jahren diese Sprache. „Wenn wir von Begegnungen hier in dem Stadtteil sprechen, dann findet sie zwischen Menschen statt, die keine sozialen Probleme miteinander haben“, so Binnenstein-Bachstein. Die von ihm angesprochene fehlende Wahlmöglichkeit von Lebensentwürfen, die nicht nur zuwandernde, sondern grundsätzlich einkommensschwächere Menschen betrifft, wird im Prozess der Gentrifizierung Ottakrings deutlich.
„Idyll für eklektische Besserverdiener“
Von einem „Idyll für eklektische Besserverdiener“ schrieb „Die Zeit“ überspitzt. Und auch wenn Neulerchenfeld nicht der Prenzlauer Berg ist, so scheint das Steigen von Wohnungs- und Mietpreisen weiter unaufhaltsam. Im Schnitt beträgt der Bruttomietzins für eine Kategorie-A-Wohnung in Gürtelnähe zwölf Euro pro Quadratmeter. In Wien-Neubau sind es 13 Euro, in der noblen Josefstadt 14 Euro pro Quadratmeter.
Für eine sanierte Eigentumswohnung im Dachgeschoß in der Nähe des Yppenplatzes treibt das knappe Angebot im Moment die Kaufpreise ohnedies weiter in die Höhe. Wo man noch vor zwei Jahren für 100 Quadratmeter mit 300.000 Euro Kaufpreis dabei war, sind heute schon deutlich höhere Finanzmittel nötig.
Investitionen gegen soziale Kluft
Von der Gefahr, dass das Viertel gerade um den Brunnenmarkt sozial weiter auseinanderdriftet, schrieb der „Standard“ schon vor zwei Jahren. Die Stadt investiert seit Jahren in die Sanierung von Substandardwohnungen und ganzen Straßenzügen. Allein in die Erneuerung des Brunnenmarkts, der mit wöchentlich 59.000 Besuchern laut stadtinterner Zählung mehr Besucher als der Naschmarkt aufweist, wurden fünf Millionen Euro gesteckt.
Konflikt und Gemeinschaftsfindung
Die an der TU Wien lehrende deutsche Soziologin Gesa Witthöft erinnert im Kontext der Stadtentwicklung und Stadtplanung auch an den Faktor des „Eigenen“, den es im Kontext von städtebaulichen Erneuerungsprozessen zu bedenken gelte: Man brauche diese Bestimmung, bevor man „überhaupt mit ‚dem Fremden‘ in Kontakt treten“ könne.
Buchhinweis
Antonia Dika, Barbara Jeitler, Elke Krasny, Amila Sirbegovic, Balkanmeile. 24 Stunden Ottakringerstraße. Lokale Identitäten und globale Transformationsprozesse. Ein Reiseführer aus Wien. Turia und Kant, 232 Seiten, 26 Euro.
„Das ist die große Herausforderung an die Stadtplanung. Diese stellt Räume mit bestimmten Funktionen bereit“, so Witthöft: „Der Einfluss darauf, wie die Menschen diese Räume nutzen, ist viel geringer, als die Fachleute oft denken.“ Menschen seien flexibler in der Aneignung des Viertels - und je unterschiedlicher die Lebensstile, desto mehr Nutzungschancen des öffentlichen Raumes würden sich ergeben. Das mache die Nutzung des Raumes auch konfliktträchtiger. Aber, so Witthöft: „Konflikte sind nicht schlimm. es kann auch eine sehr konstruktive Form von Reibung und Gemeinschaftsfindung geben.“
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