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immer das positive sehen :thumbup:
Wir als Türken müssen den Kurden doch beistehen"[/h] Sie trauen ihrer Regierung nicht: Deshalb wollen Tausende Türken den Kurden in Syrien lieber selbst helfen. So wie Tamer Doğan, der sich plötzlich in Kobani wiederfand. von Çiğdem Akyol, Istanbul
6. Oktober 2014 11:06 Uhr
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Aktivisten reißen einen Grenzzaun zwischen der Türkei und Syrien nieder. | © Bulent Kilic/AFP/Getty Images
Auf einmal ging alles ganz schnell, zu schnell. Zwar wollte Tamer Doğan in den syrischen Bürgerkrieg im Kampf gegen den "Islamischen Staat" (IS) ziehen, aber dann fand er sich plötzlich ganz unvorbereitet in der syrisch-kurdischen Stadt Kobani (arabisch: Ain al-Arab) wieder. "Es war ein großartiges Gefühl, wie ein Rausch", sagt der 34-Jährige.
Der Jurist Doğan sitzt in seinem Büro im Istanbuler Stadtteil Kadiköy, einem linksalternativen Viertel auf der asiatischen Seite der Metropole. Der Mann mit den langen schwarzen Haaren und einem Vollbart bezeichnet sich selbst als "Marxisten". Er ist immer noch sichtlich aufgebracht, wenn er von seiner Grenzüberquerung erzählt.
"Immer nur zu twittern und Pressemitteilungen zu schreiben, reichen in der jetzigen Situation nicht mehr aus", sagt Doğan. "Ich wollte den Kurden vor Ort helfen. Denn gerade wir als Türken müssen ihnen doch beistehen." Wie er sich seine Unterstützung im Kriegsgebiet vorgestellt hat? "Ich hätte für die Menschen in Kobani kochen können, oder mich um Verletzte gekümmert", antwortet er. "Ich hätte alles getan, was sie von mir verlangt hätten." Nur zur Waffe greifen, dass käme für ihn nicht infrage. "Das kann ich nicht, das habe ich nicht gelernt."
[h=2]IS wird zum Problem für Erdoğan[/h] Seit mehr als zwei Wochen versuchen die Islamisten die kurdisch-syrische Enklave Kobani einzunehmen. Bisher konnten die PKK-nahen kurdischen Volkseinheiten YPG die Stadt verteidigen.
Aber die Kurden und die von der US-Luftwaffe angeführten Angriffe auf die Dschihadisten konnten den Vormarsch des IS bisher nicht stoppen. Am Sonntag sagte Idris Nahsen, der stellvertretende Außenminister der Kurdenregion, zu Journalisten, die Terroristen seien nur noch einen Kilometer entfernt.
Während die Islamisten Meter für Meter näher heranrücken, wird der IS immer mehr zu einem innenpolitischen Problem für den Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Denn türkische Kurden greifen zu Waffen, um den Kurden in Syrien zu helfen.
Die Regierung in Ankara hat erst nach langem Wegschauen in der vergangenen Woche Militäreinsätzen in Syrien und im Irak zugestimmt. Noch ist allerdings unklar, ob oder wann die Regierung von dem Mandat Gebrauch machen wird.
[h=2]Zweifel an Hilfsbereitschaft der Regierung[/h] Der Regierungskritiker Doğan fuhr mit Freunden vor zehn Tagen nach Suruç in der türkischen Südostprovinz Şanliurfa, direkt gegenüber von Kobani. In der Grenzstadt trafen sie dann auf etwa weitere 3.000 Aktivisten, die aus dem ganzen Land angereist waren. Sie alle wollten nach Syrien, denn keiner von ihnen glaubt daran, dass die konservative AKP-Regierung den von den Dschihadisten eingekesselten Kurden helfen will.
Als Ministerpräsident war Erdoğan der erste Regierungschef, der die Lösung des seit 30 Jahren andauernden gewaltsamen Konflikts mit den kurdischen Rebellen anging, doch die seit 2012 laufenden Friedensgespräche sind jetzt so brüchig wie nie zuvor. Schon Ende vergangenen Jahres warnte die PKK – die in der EU und den USA als Terrorgruppe eingestuft wird – vor dem Scheitern des Friedensprozesses. Sie forderten Ankara zur raschen Umsetzung verabredeter Reformen auf. Jetzt sagte Erdogan, für ihn bestehe
kein Unterschied zwischen der PKK und dem IS – beides sei das gleiche.
[h=2]Kurden sind größte Minderheit des Landes[/h] Geschätzte 15 Millionen Kurden leben in der Türkei, sie sind die größte Minderheit des Landes. Die Solidarität mit den durch den IS bedrohten Kurden in Syrien ist groß, das Misstrauen gegen die türkische Regierung sitzt tief. So wird ihr vorgeworfen, den IS unterstützt zu haben.
Die von Erdoğan vorgeschlagene militärische Pufferzone in Syrien halten Kritiker für eine Taktik der Regierung, kurdische Gebiete besetzen zu wollen. "Die Türkei will die Kurden nur unterdrücken", sagt Doğan.
Denn im Norden Syriens haben sich die syrischen Kurden eine inoffizielle Autonomiezone mit dem Namen Rojava ("Westen") geschaffen. Nun bringt der Angriff der Dschihadisten dieses Gebiet in Gefahr – und die PKK reagierte mit einem Aufruf an ihre Anhänger in der ganzen Welt, die kurdischen Syrer zu verteidigen. Mehrere Hundert PKK-Kämpfer aus der Türkei sollen bereits in Syrien angekommen sein.
[h=2]PKK droht mit Krieg[/h] Die türkische Regierung fürchtet, dass die Kurden angesichts ihrer militärischen Erfolge gegen den IS in ihren Autonomieforderungen noch bestärkt werden.
Cemil Bayık, ein PKK-Gründungsmitglied, sagte kürzlich: "Wir haben die Befugnis, den Krieg wieder aufzunehmen." Dann meldete sich letzte Woche auch PKK-Chef Abdullah Öcalan zu Wort. "Ich fordere all diejenigen, die kein Interesse an einem Kollaps des Friedensprozesses haben, auf, Verantwortung zu übernehmen", so der seit 1999 inhaftierte Öcalan. Sollte es in Kobani zu einem Massaker kommen, seien die Friedensgespräche mit Ankara beendet.
Weil jeden Tag türkische Kurden und Türken wie der Jurist Doğan versuchen, zur Unterstützung der Kurden nach Kobani zu gelangen, werden diese an den Grenzen nicht durchgelassen. Doğan, seine Freunde und der ganze Tross von etwa 3.000 Demonstranten zogen deswegen am nächsten Tag weiter zu einem anderen Grenzabschnitt, wo sie wieder aufgehalten wurden. Was dann folgte,
hat der Aktivist teilweise mit einer Videokamera aufgenommen.
[h=2]Aktivisten stürmten die Grenze[/h] Die 3.000 Demonstranten rannten einfach los, trampelten die Grenzzäune nieder, und die türkischen Soldaten griffen nicht ein. Doğan, gerade noch auf friedlichem Territorium, befand sich plötzlich mitten im Krieg – auf einmal standen sie alle in Kobani. Jubelnd wurden sie von den Kurden empfangen, es sah aus wie ein Volksfest. "In diesem Moment war mir mein Leben in Istanbul nicht mehr wichtig", sagt Doğan. "Ich war ich einfach nur glücklich. Ich wollte den Menschen helfen, die dem IS schon so lange Widerstand leisten."
Aber ist das nicht naiv, einfach so in einen Krieg zu rennen? "Natürlich ist das verrückt", so Doğan. Aber wer sein Leben nicht riskiere, der könne niemals etwas ändern. "Das Schlimmste, was mir hätte passieren können, wäre mein Tod gewesen." Genauso sieht es Ercan Demir, einer von Doğans Freunden. Der 37-Jährige hat seinen Job bei einem Logistikunternehmen gekündigt, um bei der Aktion in Suruç dabei sein zu können. "Sind unsere Leben mehr Wert als das der Kurden in Kobani?", fragt er. Demir, ebenfalls schwarzes langes Haar, wohnt in einem besetzten Haus in Kadiköy. Aber anders als sein Mitstreiter Doğan ist er bereit, zur Waffe zu greifen.
[h=2]Geldstrafe statt Krieg[/h] Doch soweit kam es erst gar nicht. Die Unterstützer wurden in Kobani zwar freudig empfangen, doch gab es keine Verwendung für sie. Man könne die unbewaffneten Aktivisten nicht schützen und sich gleichzeitig gegen den IS verteidigen, hätten die Einheimischen gesagt, und sie gebeten, wieder zu gehen. Deswegen kehrten die 3.000 Aktivisten nach wenigen Stunden zurück. Weil der Grenzübertritt illegal war, rechnen Doğan und Demir mit einer Geldstrafe. Und beide sagen, dass ihnen das egal sei.
In Istanbul fahren momentan jeden Tag Busse mit Aktivisten an die türkisch-syrischen Grenzen. Manche wollen kämpfen, andere einfach nur gegen die türkische Syrienpolitik protestieren. Am Wochenende wurden nahe Suruç Kurden und regierungskritische Demonstranten mit Tränengas von türkischen Sicherheitsbeamten am Grenzübergang gehindert. Auch Doğan und Demir wollen wieder hin.
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