Zweitens: Dann brach großes Staunen aus. Staunen über etwas, das man die längste Zeit wusste. Da nähern wir uns schon einen Schritt mehr dem österreichischen Wesen: „Nur weil wir`s glaubt ham, woher hätt´ma des wissen solln?“
Drittens: jetzt kommen wir zur Herzwurzel der österreichischen Verhältnisse. Die ÖVP (Christdemokraten) ist der größte Verlierer der Wahl, hat die meisten Prozentpunkte verloren, zugleich ist sie die einzige Partei, von der feststeht, dass sie wieder regieren wird, in welcher Koalition auch immer. Abstrafen und zugleich bestätigen, das ist zutiefst österreichisch, das ist die typisch österreichische Entweder-Und-Oder-Mentalität. Man ist dankbar für den Sozialstaat, verachtet aber die Partei, die ihn durchgesetzt und aufgebaut hat. Man will, dass der Sozialstaat gegen die Ausländer verteidigt wird, wählt aber gerne eine Partei, die ihn abbauen will. Man beansprucht für sich herrisch demokratische Rechte, gesteht sie zugleich 30% der Menschen in Wien, die hier arbeiten und Steuern zahlen, nicht zu. Österreichweit über 10%. Man hält sich für Demokraten und Teil eines demokratischen „Wählerwillens“, auch wenn man Führer wählt, die die Demokratie auszuhöhlen versprechen. Man versteht unter Demokratie, dass die Mehrheit entscheidet, aber erklärt auch, wenn „das Volk“ es so will, eine Minderheit zur Mehrheit, weil die anderen eben nicht zum Volk gehören. Man ist süchtig nach Harmonie („Bitte nicht streiten!“) und Kontinuität, bezichtigt zugleich die Parteien, dass sie quasi eine „Einheitspartei“ bilden, in der sich alle einig sind und „nichts weiterbringen“. Sie werfen der Politik vor, was ihre Sehnsucht ist, und zeigen ihre Sehnsucht, indem sie auch den aggressivsten Politiker wählen, der als Abrissbirne Österreichs auftritt. „Etwas weiterbringen“ kommt in jedem Halbsatz des politischen Diskurses vor, die andere Hälfte kann man je nach Kontext ergänzen. Allerdings wird nie gesagt, was das „Weiterbringen“ konkret bedeutet, wichtig ist nur, dass sich nichts ändert. Man kann das ewig fortsetzen, über Österreich hinaus: Wir haben eine Europa-Ministerin, die sich als „glühende Europäerin“ bezeichnet, zugleich aber verspricht, sich keinem „Diktat aus Brüssel“ zu beugen.
Man kann das als kollektive Krankheit bezeichnen, in Österreich aber heißt diese wehleidig-herrrische Entweder-Und-Oder-Mentalität Patriotismus. Für diese buchstäblich eigenwillige Form des Patriotismus wurde in der Zwischenkriegszeit das Fundament gelegt, auf dem in der Zweiten Republik aufgebaut wurde. Daran muss man erinnern, wenn man überhaupt etwas verstehen will: Anders als Deutschland und einmalig in Europa hat Österreich mit Wonne und glühender Begeisterung zwei Faschismen erlebt. Zuerst den Austrofaschismus und dann den Nationalsozialismus. Nach 1945 wurde der Nationalsozialismus geächtet, wie inkonsequent auch immer, es wurde doch entnazifiziert. Der Austrofaschismus aber wurde nie als das Verbrechen, das er war, aufgearbeitet, im Gegenteil: weil die Austrofaschisten die Souveränität Österreichs gegen Hitler zu verteidigen versuchten, galten die Konkurrenzfaschisten nach 45 plötzlich als „Widerstandskämpfer“ und eben als „Patrioten“. Sie haben das Parlament ausgeschaltet, eine „Kanzlerdiktatur“ im Namen des katholischen österreichischen „Volkes“ aufgebaut, in die Gemeindebauten der Sozialisten hineingeschossen – aber rückblickend waren sie die Verteidiger Österreichs, die Blaupause für die Entwicklung des Österreichpatriotismus nach dem Krieg. Nun ist die ÖVP die Nachfolgepartei der Austrofaschisten, lange Zeit – und das hat sich eingeprägt – war für die österreichischen Christdemokraten der austrofaschistische Führer Dollfuss ihr Gott, der für sie ihr Leben hingegeben hat. Das ist jetzt einmal die Grundlage: Zwar wurde der Nationalsozialismus zum Verbrechen erklärt, aber der Austrofaschismus wurde nicht ebenfalls diskreditiert, sondern vielmehr zum Inbegriff des neuen Patriotismus der früheren Nazi-Mitläufer erklärt. Das ist der Grund, warum man in der Zweiten Republik immer „ein bissl“ faschistisch sein konnte, ohne schlechtes Gewissen, man war ja kein Nazi, im Gegenteil, man konnte es im Wonnegefühl, ein Patriot zu sein.
Die FPÖ ist die Nachfolgepartei der Sammelbewegung ehemaliger Nationalsozialisten. Natürlich traten Ex-Nazis nach 45 auch in die SPÖ und in die ÖVP ein, dadurch gab es immer eine verständnisvolle Zusammenarbeit, auch als die FPÖ noch eine Kleinpartei war. Jörg Haider war der erste FP-Politiker, der die politische Energie und Dynamik erkannte, die im österreichischen Patriotismus-Begriff weste. Er hielt zwar die alten Nazis bei der Stange, lud aber zugleich alle Patrioten ein, ihm zu folgen. Sein Programm war chimärenhaft, klar war immer nur der Adressat: die Patrioten. Nach und nach baute er die Partei um, bis sie die Gestalt hatte, die unter der Führung seines ehemaligen Ghostwriters heute Erfolge feiert: wenn im Patriotismus der Alltagsfaschismus glüht, dann lasse vom Nationalsozialismus alles weg, was für diesen kennzeichnend, aber heute in Österreich unbrauchbar ist: Konzentrationslager, aggressiver Militarismus, das Versprechen nach mehr Lebensraum, Weltherrschaftsphantasien und dergleichen. Was bleibt dann vom Nationalsozialismus über? Eben: der Austrofaschismus.
Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 1493
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