Artikel 301 StGB (Türkei)
"Wer öffentlich das Türkentum, die Republik oder die Große Nationalversammlung herabwürdigt, soll mit Haft zwischen sechs Monaten und drei Jahren bestraft werden. Wer öffentlich die Regierung der Republik Türkei, die juristischen Einrichtungen des Staates, die militärischen oder Sicherheitsorgane beleidigt, soll mit Haft zwischen sechs Monaten und zwei Jahren bestraft werden. Falls ein türkischer Bürger das Türkentum in einem anderen Land beleidigt, soll die Strafe um ein Drittel erhöht werden."
Das türkische Strafrecht enthält unter den Staatsschutzbestimmungen Artikel, die regelmäßig von nationalistischen Anwälten und Staatsanwälten als Gesinnungsparagraphen missbraucht werden. Dazu gehörten namentlich § 159 sowie 305 (vormals 306). Bei der im Zuge des Beitrittsprozesses durchgeführten Novellierung des Strafrechts, die im Juni 2005 von der Großen Nationalversammlung verabschiedet wurde, wurde auf Antrag dreier Abgeordneter § 305 auch auf Ausländer ausgeweitet. Auf der Grundlage dieser Strafrechtsartikel gelang es der türkischen Justiz, etliche Menschenrechtler und Intellektuelle zum Schweigen zu bringen, die an Tabus in der türkischen Gesellschaft gerührt hatten, namentlich an dem Thema der spätosmanischen Genozide sowie an Fragen der tür-kisch-kurdischen Beziehungen. Artikel 301, der bei der Gelegenheit dieser Strafrechtsreform § 159 ersetzte, hat sich ebenfalls als Knebelinstrument erwiesen. Die Liste seiner Opfer ist lang. Wegen der Erwähnung des Völkermords an den Armeniern wurden unter anderem der erste türkische Literaturnobelpreisträger, Orhan Pamuk, die Romanschriftstellerin Elif Şafak, der Verleger und Menschenrechtler Ragip Zarakolu sowie der exilierte Wissenschaftler Taner Akçam nach § 301 angeklagt bzw. verurteilt.
T. Akçam, der es nach eigenen Forschungen als erster türkischer Wissenschaftler überhaupt wagte, den Völkermord als solchen zu bezeichnen, hat am 20. Juni 2007 beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof Klage gegen § 301 eingereicht.
Seine ersatzlose Streichung bildet seit Jahren eine Forderung der Europäischen Union und blockiert die Beitrittsverhandlungen. Regierungschef Erdoğan hat bereits 2006 NGOs in der Türkei aufgefordert, Formulierungen für eine Novellierung von Artikel 301 einzureichen. Eine ersatzlose Streichung kommt für ihn auch nach der Ermordung Hrant Dinks und der de facto-Flucht Orhan Pamuks nicht infrage. Er will sich lediglich einem im Februar 2007 erneut unterbreiteten Vorschlag des türkischen Presserates anschließen: Danach sollen „Herabwürdigung“ durch „Beleidigung“ und „Türkentum“ durch „türkische Nation“ ersetzt werden.[34] Nach der Wiederwahl seiner Partei AKP gab Erdoğan aber drei weitergehende Novellierungsdetails bekannt: Das Strafmaß soll künftig nur höchstens zwei Jahre Haft betragen und Meinungsäußerungen sollen ausdrücklich ausgenommen bleiben. Überdies sollen Anklagen nach Artikel 301 nur mit Autorisierung des Staatspräsidenten möglich sein.