Mit welchem Begriff charakterisieren Sie das chinesische System?
Jörg Lang: Andreas Seifert beschreibt die Volksrepublik China als "Autokratie" im Gegensatz offenbar zu einer Demokratie, wobei er freilich nicht definiert, was die wesentlichen Elemente für eine lebendige Demokratie sind und auch nicht darauf eingeht, ob diese denn "bei uns" bzw. im auch von ihm so bezeichneten "Westen" noch vorhanden sind bzw. zunehmend abgebaut werden.
Die VR China definiert sich in ihrer Verfassung selbst janusköpfig als eine "Diktatur des Volkes". Ihr Demokratieverständnis richtet sich dabei eher danach, ob eine Herrschaft dem Volk dient, und weniger danach, welche formalen Rechte ein "Volk" bzw. bestimmte Angehörige eines Volkes haben.
Menschenrechte werden existenziell und kollektiv verstanden
Die Frage ist dann aber doch, welche Einflussmöglichkeiten die Menschen haben.
Jörg Lang: Nach meinen persönlichen Informationen aus China scheinen die sozialen und persönlichen Teilhabemöglichkeiten der Menschen, jedenfalls in ihren unmittelbaren Lebensbereichen und insbesondere auch bei der Arbeit und in den Betrieben, realer und stärker ausgeprägt als "bei uns", wo sie eher rückläufig sind.
Das Rechtsstaatswesen und die Rolle der Gerichte sind offenbar in den vergangenen Jahren ausgebaut worden. Es gibt eine aktive und passive Identifikation der Menschen mit der Kommunistischen Partei und deren inzwischen über 90 Millionen Mitgliedern, vor allem auf der örtlichen Ebene und über die Nachbarschaftskomitees. Dies hat sich insbesondere auch während der Pandemie gezeigt.
Richtig ist, dass - was "Systemfragen" anlangt bzw. die Herrschaft der KP China an sich - es keine Medienfreiheit gibt. Aber auch "bei uns" agieren die führenden privaten und öffentlichen Medien inzwischen zunehmend uniform, wenn es um die angebliche alternativlose Herrschaft des privatkapitalistischen Systems als solche und die Vorherrschaft dieses System in der Welt geht.
Und die Menschenrechte?
Jörg Lang: Im "Westen" wird bei Menschenrechten heute der Schwerpunkt auf individuelle Selbstverwirklichungsrechte gelegt. In der Praxis beschränken sie sich für die Mehrheit aber zunehmend auf Freiheiten beim Konsum, bei Events und Unterhaltung und in der privaten Lebensführung.
Nach dem Verständnis der Volksrepublik China - und ebenso der Menschen in den nach wie vor ausgeplünderten und verheerten Ländern der Welt - sind Menschenrechte dagegen mehr existenziell und kollektiv zu beziehen, also auf die Verwirklichung des Rechts auf Leben, Essen, Wasser, Wohnung, Gesundheit, Bildung, Sicherheit, Frieden.
Hier braucht sich die VR China nicht zu verstecken. Schon gar nicht im Vergleich etwa zu Ländern wie Indien, Indonesien Brasilien, Nigeria, Irak usw., die nach wie vor unter westlich-privatkapitalistischer Dominanz stehen.
Ihnen ist klar, dass Ihr Urteil dem hierzulande dominierenden China-Bild diametral entgegensteht?
Jörg Lang: Die seit Jahrzehnten ganz überwiegend negative Berichterstattung in den westlichen Medien erweist sich bei sorgfältigem Hinsehen als Teil einer zunehmend orchestrierten psychologischen Kriegsführung gegenüber der Volksrepublik China.
Dies gilt auch für die Dauerkampagne zu den angeblichen schweren Verletzungen von individuellen Menschenrechten in China. Das Ziel ist dabei aber, wie die Erfahrung lehrt, nicht die Verteidigung der Menschenrechte, sondern die versuchte Destabilisierung eines sogenannten Systemgegners und, wenn möglich, der Sturz der Herrschaft der KP China.