Akademie der Wissenschaften in der Krise: Kreml plant Reformen
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Der Gesetzentwurf über die Reform der Russischen Akademie der Wissenschaften, die zur Schließung dieser Institution führen könnte, wurde am Mittwoch in der ersten Lesung von der Staatsduma (Parlamentsunterhaus) gebilligt. Präsident Wladimir Putin stimmte der von der Regierung unterstützten Reform trotz der Proteste der russischen Forschergemeinschaft bereits zu.
Die Akademie der Wissenschaften wurde 1724 vom westlich orientierten Zaren Peter dem Großen gegründet, was den Beginn der russischen Wissenschaft kennzeichnete. Seitdem schickten russische Wissenschaftler den ersten Menschen ins All, konstruierten Atomeisbrecher und arbeiteten an der Dechiffrierung der Maya-Schrift. Doch selbst führende Mitglieder der Akademie geben zu, dass 20 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion dringend Reformen erforderlich sind.
Die überbordende Bürokratie der Akademie soll zu einem Stillstand geführt haben. Doch Kritiker sind der Ansicht, dass die Reform die ohnehin schwer angeschlagene russische Wissenschaft endgültig zu Grabe tragen wird. Nachfolgend sind die wichtigsten Fragen und Lösungsansätze zur Russischen Akademie der Wissenschaften aufgelistet.
- Was ist die Akademie der Wissenschaften?
Die Akademie ist weitaus mehr als ein privilegierter Klub von Wissenschaftlern. Über ihre 434 Institute koordiniert die Akademie die Wissenschafts- und Forschungsarbeit in Russland. In vielen Ländern wie in den USA werden die Forschungen von den Universitäten durchgeführt. Obwohl die russische Wissenschaft sich dem US-amerikanischen System annähert, wird an den Universitäten gelehrt, während in den Instituten der Akademie geforscht wird. In der Sowjetzeit erhielten die Spitzenforscher etliche Privilegien – wie Autos, Landhäuser, Wohnungen. Heute sind fast alle diese Privilegien weg.
- Wie lautet die Kritik?
Ineffizienz. Die russische Wissenschaft steckt in der Krise. Das wissen die Akademiker, die Beamten und die Gesellschaft. Doch bei der Ursachenforschung tun sich alle schwer. Die Beamten sehen die Akademie als eine Art Seniorenheim für alte, träge, apathische und bestechliche Wissenschaftler. Die Akademiker beklagen sich über eine permanente Unterfinanzierung. Beide Seiten werfen ständig mit Zahlen um sich. Viele der Angaben sind häufig jedoch veraltet, umstritten oder irreführend.
Auszüge aus vertrauten Quellen:
• 2012 erhielt die Akademie 65 Milliarden Rubel (zwei Milliarden Dollar) staatliche Zuschüsse, was um das Zehnfache mehr ist als 2001 (Angaben der Akademie);
• Das Durchschnittsgehalt eines Akademikers lag 2002 bei 130 Dollar pro Monat. In den vergangenen zehn Jahren stiegen die Gehälter um das Achtfache auf 1020 Dollar. (Angaben von Präsident Wladimir Putin).
• Im vergangenen Jahr entfielen auf die Akademie 57 Prozent der russischen Wissenschaftsartikel, die in die Liste von Web of Science gerieten. (Zahlen von Web of Science). Die russischen Beiträge im Web-of-Science-Index lagen im vergangenen Jahr bei 2,06 Prozent. Zum Vergleich: Bei den USA sind es 27 Prozent (Bildungsministerium).
• Die Zahl der Forschungsbeiträge der Akademie stieg von 2011 bis 2012 um 33 Prozent. (Angaben der Akademie).
• Die Zahl der Forscher in den Instituten der Akademie sank zwischen 1991 und 2012 um 26 Prozent auf 48.000 (Angaben der Akademie).
• Zwischen 40 und 50 Prozent der Forscher sind im Rentenalter (Bildungsministerium).
In den Diskussionen um die Effizienz der Akademie wird oft unter anderem über folgende Themen gesprochen:
• Kosten für einen Forschungsbeitrag (niedriger als in russischen Universitäten)
• Zitierhäufigkeit russischer Forscher (niedriger als in westlichen Ländern);
• Einnahmen der Akademie entstehen aus ihrem Vermögenswerten (13.700 Eigentumsobjekte), die häufig vermietet werden (der Gewinn liegt bei 57 bis 700 Millionen Dollar im Jahr);
• Missbrauch des Vermögens der Akademie, zweckfremde Nutzung.
Doch zu keinem von diesen Punkten gibt es zuverlässige Zahlen.
Ein weiteres Problem ist die eingeschränkte Mobilität des Personals. Viele Wissenschaftler sitzen seit Jahrzehnten auf denselben Posten. Es gibt zwar keine zuverlässigen Zahlen, doch Bildungsminister Dmitri Liwanow und der Präsident der Akademie der Wissenschaften, Wladimir Fortow, sprechen von einem ernsthaften Problem. Ein krasses Beispiel dafür ist der ehemalige Präsident der Akademie, Juri Ossipow: 22 Jahre hielt er dieses Amt, bis er bei der Wahl im Mai 2012 von Fortow abgelöst wurde.
- Was muss getan werden?
Die Regierung schlägt vor, 434 Institute der Akademie unter ihre direkte Kontrolle zu nehmen. Die Akademie mit ihren 1246 Mitgliedern soll in einen „Klub der Wissenschaftler“ umgewandelt werden. Am Mittwoch schlug Putin vor, ein Beratungsgremium aus weltweit anerkannten Wissenschaftlern zu bilden, die sich mit Fragen wie Ernennung der Leiter, Kontrolle der Forschung und Vermögenswerte der 434 Institute befassen. Genauere Angaben zu diesem Vorschlag wurden nicht gemacht.
- Woran hapert es?
Die russische Regierung hat einen schlechten Ruf bei der Umsetzung von institutionellen Reformen. Das Zentrum für strategische Entwicklungen betonte bereits, dass die Behörden nicht in der Lage sind, institutionelle Reformen durchzuführen.
Im Gesetzentwurf über die Reform der Akademie wird nicht erklärt, warum Beamte besser als anerkannte Wissenschaftler für die Leitung von Forschungsorganisationen (wie das Institut für Projektierung und Mikroelektronik oder das Institut für hochmolekulare Verbindungen) geeignet sind. Zudem wird nicht erklärt, wie der Begriff „akademische Unabhängigkeit“ dazu passt.
Laut Akademiemitglied Waleri Rubakow will die Regierung offenbar die Vermögenswerte der Akademie kontrollieren und nutzen. Bei dieser Reform gehe es um einem „korporativen Überfall“, sagte der Experte.
Kritiker führen ähnliche Reformen im Verteidigungsministerium als mahnendes Beispiel an, als vom Staat bestimmte Firmen die Kontrolle über die nichtmilitärischen Vermögenswerten erhielten, was mit einem großen Korruptionsskandal endete.
Die Onlinezeitung „Gazeta.ru“ schrieb in der vergangenen Woche, dass es bei der Reform um einen privaten Rachefeldzug von Akademiemitglied Michail Kowaltschuk gehen könnte, dessen Bruder Juri ein enger Vertrauter Putins sei. Wie es im Artikel heißt, ist Kowaltschuk beleidigt, weil ihm der Status eines Akademikers verweigert wurde, weshalb er nicht an der Wahl zum Akademiepräsidenten teilnehmen konnte.
Die Sprecher Kowaltschuks und Putins nahmen keine Stellung zu diesen Äußerungen.
- Gibt es Alternativen?
Viele Wissenschaftler fordern Reformen in der Akademie, darunter ihr aktueller Präsident Wladimir Fortow, der Nobelpreisträger Andrej Geim und der bekannte Physiker
Alexej Chochlow. Chochlow schlug 2012 eine alternative Reform vor. Er formulierte drei wichtige Punkte:
• Reform des staatlichen Finanzierungssystems. Mehr Mittel sollen als Subventionen und nicht als Festgehälter bereitgestellt werden;
• Die Kürzung der Zahl der festangestellten Mitarbeiter und die Anstellung von Forschern mit befristeten Verträgen;
• Erhöhung der Finanzierung der Wissenschaft.
Ob etwas davon in die aktuelle Reform aufgenommen wird, wird im Herbst klar, wenn der Gesetzentwurf in dritter und somit letzter Lesung erörtert wird.
Viele Experten sind der Ansicht, dass in der 290-jährigen Geschichte der Akademie mit dem Staat immer wieder um Macht und Geld gekämpft wurde. Zarin Anna berief seinerzeit Vertreter des Hofadels auf die Spitzenposten der Akademie. Josef Stalin unternahm Säuberungen unter den Akademikern und untersagte bzw. zensierte einzelne Forschungsdisziplinen. Nikita Chruschtschow drohte der Akademie mit ihrer Auflösung, weil sie ihm zu widerspenstig wurde. Heute muss der Kreml zeigen, wie er den Widerstand stoppen kann.
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