Mulinho..okay, okay..natürlich darf man alles hinterfragen.
ich poste mal einen interessanten Artikel stückweise, der ein paar der hier aufgeworfenen Fragen wie ich finde zu lösen hilft:
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Paul Spirig, Jahrgang 1962, wilde Frisur, Stoppelbart, gelegentlich etwas chaotisch, mit einer Vorliebe für orangefarbene T-Shirts, war der buchstäblich bunte Hund im Lehrerkollegium; ein junger Mann mit viel Energie und Idealismus, gelegentlich aber auch unbequem, denn er hielt nie zurück mit seiner eigenen Meinung. Andy Prinzing hat ihn als Kollegen erlebt, der an die Veränderbarkeit des Menschen glaubte und neue Formen des Lernens und Lehrens wagte. Und er hatte ein glückliches Händchen. «Kopf oder Zahl?» fragte er jeweils. Wer verlor, holte und zahlte den Znüni im Schulkiosk, den er selber geschreinert hatte. Paul hat meistens gewonnen. Das Leben war kein Spiel für ihn, und doch nahm er es spielerischer als manche seiner Kollegen.
Für Andy Prinzing war Paul Spirig «ein geborener Lehrer», denn er fand meistens einen guten Draht zu seinen Schülern. Als ihr Kumpel verstand er sich jedoch nie. Er war der Chef im Zimmer, und für diesen zählte zum Wichtigsten, dass die Klasse harmonierte. Dass alle dazugehörten. Für ihn war es gelebte Integration, Velotouren, Exkursionen oder Nachtwanderungen zu organisieren, wann immer er konnte. Und er lehrte die Jugendlichen, offen die eigene Meinung zu sagen, ob in der Schule oder zu Hause.
Paul Spirig hatte eine Klasse mit rund zwanzig Schülerinnen und Schülern, wovon vierzig Prozent Ausländer waren – nichts Besonderes für eine Realschule im Agglo-Westen von St. Gallen. Von den Schwierigkeiten mit der Schülerin Besarta Gecaj erfuhr Schulleiter Prinzing erstmals im Oktober 1998, als ihn Klassenlehrer Spirig zu einem Gespräch mit den Eltern Gecaj bat. Die vierzehnjährige Besarta war die Tochter des Ehepaars Ded und Roza Gecaj, das einzige Mädchen von fünf Kindern. Ded Gecaj war 1991 aus Kosovo in die Schweiz emigriert und arbeitete seither als Gipser im Kanton St. Gallen. Drei Jahre später zog seine Familie nach, unter ihnen die damals neunjährige Besarta, ein zurückhaltendes, intelligentes Mädchen.
Die Gecajs waren nicht wie die meisten Kosovaren muslimisch, sondern katholisch. Zunächst hatten die Eltern ihre Tochter an die katholische Sekundarschule St. Gallen geschickt. Doch Besarta bestand die Probezeit nicht, weshalb sie im November 1997 in die Klasse 2K von Paul Spirig ins «Engelwies» versetzt wurde. Besarta war eine unauffällige Realschülerin – bis auf die wiederholten Unterrichtsabsenzen. Ob es um Schulausflüge oder Schwimmunterricht ging, um Nachtwanderungen oder das kommende Winterlager, immer wieder hatte Lehrer Spirig mitunter heftige Diskussionen mit Ded Gecaj, weil dieser seine Tochter nicht mitgehen lassen wollte. Der Lehrer hingegen beharrte auf ihrer Teilnahme, was im Übrigen auch der offiziellen Haltung der Schulbehörden entsprach. So bewegte sich Besarta Gecaj dauernd zwischen zwei Welten, die sich gegenseitig fremd waren.
Was der Lehrer seit Juni 1998 ebenfalls von Besarta selber wusste: dass sie von ihrem Vater seit Jahren geschlagen wurde. Deshalb zog Paul Spirig auch eine Schulsozialarbeiterin für das Gespräch mit den Eltern bei. Dabei gab sich der Vater überraschend moderat und behauptete, es sei die Mutter, die ihre Tochter nicht ins Winterlager gehen lassen wolle, was jedoch nicht stimmte, wie Besarta ihrem Lehrer hinterher versicherte. Es war umgekehrt. Prinzing und Spirig boten den Gecajs ein separates Schlafzimmer für Besarta an, zugleich insistierten sie aber auf deren Teilnahme am Lager. Zugleich wurden weitere Hausbesuche bei den Gecajs vereinbart.
Die Bedrohung
Nach dem Gespräch erhofften sich der Klassenlehrer und der Schulleiter eine gewisse Entspannung der Situation, doch die trat nicht ein. Das Misstrauen von Ded Gecaj gegenüber Paul Spirig wuchs, er muss geahnt haben, dass seine Tochter sich immer wieder ihrem Lehrer anvertraut hatte. Der Vater, glaubten Spirig und Prinzing schon damals, sah im Lehrer eine zunehmende Bedrohung, dass er die Kontrolle über seine Tochter verlieren könnte.
Sechs Wochen später, am 11. Dezember 1998, hörte Andy Prinzing das nächste Mal von Besarta Gecaj. Es war der Tag, an dem Paul Spirig seine Schülerin von der Steinerbrücke in St. Gallen heruntergeholt hat, nachdem ihn zwei Mitschülerinnen gewarnt hatten, Besarta wolle sich dort das Leben nehmen, weil sie den Druck zu Hause nicht mehr aushalte. Spirig nahm das Mädchen zu sich nach Hause, wo bereits die halbe Klasse vor der Türe wartete. Er riet Besarta, sich an die Opferhilfe zu wenden, und von dort aus wurde sie noch am selben Abend in einem Mädchenhaus in Zürich in Sicherheit gebracht.
Jener 11. Dezember war auch der Tag, an dem Ded Gecaj erstmals drohte, den Lehrer seiner Tochter umzubringen. Der Vater war ausser sich, weil die Behörden ohne sein Einverständnis gehandelt hatten. Nun schaltete der Schulleiter die Polizei ein, und gemeinsam wurde beschlossen, die beiden Kinder von Paul Spirig sowie dessen schwangere Ehefrau bei Bekannten im Appenzellerland unterzubringen. Am selben Tag schrieb Paul Spirig einen langen Brief an die Vormundschaftsbehörde, der mit folgenden Sätzen schloss: «Morddrohungen sind ein Offizialdelikt. Die Polizei hat die Pflicht, diesen nachzugehen. Mit der Familie Gecaj muss ein absolut klares Gespräch mit der Androhung von Konsequenzen geführt werden. Ich weiss nicht, ob es in Ihrem oder meinem Interesse liegt, diesen Vorfall in der Öffentlichkeit publik zu machen.»
Noch vor Weihnachten beschlossen die Behörden, Besarta Gecaj per sofort in ein anderes Schulhaus und eine andere Klasse umzuteilen. Das war eine notwendige Deeskalation der Situation, aber die grundsätzlichen Probleme waren damit noch lange nicht gelöst, wie auch der Schulleiter wusste. Am 22. Dezember schrieb Andy Prinzing an die städtische Schulvorsteherin: «Mit der Krisenintervention wird nur reagiert. Vorbeugend wird nicht gewirkt. (…) Wir setzen im Grunde ja nur die Vorschriften um, die uns von der Verwaltung und der Politik vorgegeben sind. Und hier vermissen wir die Unterstützung der politischen Seite. Wir glauben aber auch, dass die Problemkreise der Oberstufe in der Politik gar nicht erkannt werden. (…) Wir spüren in unserer Arbeit wenig Unterstützung und vor allem keine Konzepte zu den Themen Integration, Elternarbeit, Verwahrlosung. Gerne würden wir an eine breitere Öffentlichkeit gelangen, wohl wissend, dass unsere Probleme auch gesellschaftlicher Natur sind. Die Angst vor einer Verschärfung der Problematik, beispielsweise der Fremdsprachigen, lässt uns vorsichtig sein.»
Es war beileibe nicht die erste Drohung, die Andy Prinzing als Schulleiter erlebt hatte. Doch auch bei jener von Ded Gecaj hatte er keine Sekunde lang ein Kapitalverbrechen befürchtet, erst recht nicht nach dem Beschluss zu Besartas Versetzung. Schiessereien an Schulen gab es für ihn in Amerika, aber nicht in St. Gallen-Bruggen. Selbst als er Paul Spirig in seinem Blut liegen sah, glaubte Prinzing instinktiv an Suizid, weil sich ein Jahr zuvor ein Lehrerkollege vom Nachbarschulhaus umgebracht hatte. Erst ein paar Minuten später, nachdem er von seinem Kollegen Gerd Piller erfahren hatte, dass dieser einen Mann mit einer Pistole aus dem Fensterdes Besprechungszimmers im Parterrehatte springen sehen, erst in diesem Moment begriff der Schulleiter, was dort vermutlich passiert war. Noch einmal rannte er zum Telefon, Minuten später war ein Grossaufgebot der Polizei vor Ort. Zu spät, der Mörder war schon fort.
In den folgenden Stunden und Tagen versuchte der Schulleiter einfach nur zu funktionieren. Krisensitzungen mit dem Schulamt, mit dem Care Team, mit dem gelähmten Lehrerkollegium, mit der Kripo. Und dann die mediale Invasion: Innerhalb von Stunden war das «Engelwies» von sieben TV-Sendern belagert; irgendwo zwischen Blitzlichtern und Richtmikrofonen der Schulleiter, der mit kaum hörbarer Stimme Auskunft zu geben versuchte und bat, man möge die Familie und die Schule in Ruhe lassen. Andy Prinzing schien wie ferngesteuert in einem surrealen Film.
Die vier tödlichen Schüsse auf den Lehrer Paul Spirig brachen mit einer Wucht über die Schweiz herein, wie man sie nicht mehr erlebt hat seit der Ermordung der Pfadiführerin Pasquale Brumann durch einen verwahrten Sexualtäter im Jahr 1993. Hunderte von Kondolenzschreiben aus halb Europa trafen im «Engelwies» ein. «Der Mord an Paul war kein Amoklauf mit einem zufälligen Opfer. Es war bis dahin nie vorgekommen, dass jemand beim Ausüben seines Berufes, letztlich bei einem starken sozialen Engagement zum Wohl von Kindern, ermordet wurde», sagt Andy Prinzing.
Fünfzehnhundert tief erschütterte Menschen nahmen eine Woche nach dem Mord Abschied von Paul Spirig. Seine Ehefrau Janine sagte an der Trauerfeier in der Kirche: «Dass gerade du, der immer das Ziel hatte, andere Kulturen zu integrieren, auf diese Art gehen musstest, ist mir unverständlich und erfüllt mich mit Ohnmacht. (…) Mögen wir trotzdem weiterhin den Mut haben, für Wärme und Menschlichkeit einzustehen. (…) Wer hätte gedacht, dass ich einst an deiner Beerdigung jenen Hut tragen würde, den du gar nicht mochtest an mir, weil ich mich damit vor dem Trubel der Medien schützen muss – unglaublich!» Es sind bis heute die letzten öffentlichen Worte von Janine Spirig geblieben.
Die Anschuldigung
Die ganze Trauergemeinde, ohnehin schon gelähmt vor Schmerz, war zusätzlich aufgewühlt von einem Gerücht aus dem Umfeld der Familie Gecaj, das der «SonntagsBlick» tags zuvor verbreitet hatte. Paul Spirig habe seine Schülerin Besarta sexuell missbraucht und der Vater mit diesem Mord die Ehre der Familie wieder herstellen müssen. Dieser Verdacht machte das Opfer zum Täter und den Mord – aus Sicht des Täters – zu einer Art Notwehr. Der Schulleiter war so fassungslos darob wie die Familie selber. Es folgte zwar rasch ein Dementi der Polizei, doch die üblen Gerüchte frassen sich weiter durch die Stadt und verstummten auch dann nicht wirklich, als die Polizei nach der Einvernahme von Besarta offiziell erklärte, dass tatsächlich ein sexueller Missbrauch stattgefunden hatte – aber nicht durch den Lehrer, sondern durch Ded Gecaj, den eigenen Vater.
Mit grösster Wahrscheinlichkeit muss Paul Spirig auch von diesem Missbrauch erfahren haben – von Besarta selber. Ob es tatsächlich so war, das weiss auch Andy Prinzing nicht mit letzter Sicherheit. Doch für ihn steht fest, dass hier das Mordmotiv liegt: Der Vater wollte keinen Mitwisser dulden, der ihn auffliegen lassen konnte. Denn der Missbrauch eines eigenen Kindes gilt unter Albanern als das schändlichste aller Verbrechen.
Das ist einer der Punkte in dieser Tragödie, bei dem sich Andy Prinzing auch nach Jahren noch immer die Frage stellt: «Warum habe ich damals nicht nachgefragt? Hätten wir nach dem Elterngespräch nicht merken müssen, dass noch mehr dahintersteckte als die bereits bekannten Probleme?»
Paul Spirig war allerdings auch kein Lehrer, der sich gegen aussen viel anmerken liess. Eher fand er: Das ist mein Problem, das muss ich selber lösen – «eine typische Lehrerhaltung», wie der Schulleiter nur allzu gut weiss. «Viele Lehrer werden lieber erst krank, als dass sie Hilfe von aussen holen.» Doch heute seien die Lehrer weniger Einzelkämpfer als noch vor zehn Jahren. «Ein Fall wie dieser wäre bei uns nicht mehr möglich», glaubt der Schulleiter. «Wenn es zu einem sexuellen Übergriff durch den Vater kommt und das Kind sich dem Lehrer anvertraut, dann erfahre ich innerhalb einer Stunde davon.» Denn im «Engelwies» gilt seither der strikte Grundsatz, dass ein Lehrer sein Wissen in solchen Fällen sofort teilt, womöglich auch mit der Jugendanwaltschaft und der Vormundschaftsbehörde. Auch bei Drohungen gegen Lehrkräfte, die man früher ziemlich hilf- und ratlos hinnahm, gilt für Prinzing heute null Toleranz, also sofortige Anzeige. Einmal pro Jahr wird eine Situation so brenzlig, dass er Eltern mitunter demonstrativ von der Polizei am Arbeitsplatz zu einem Gespräch abholen lässt.
Dass heute früher, gezielter und koordinierter im «Engelwies» interveniert wird, liegt auch an der intensivierten Schulsozialarbeit. Kurz nach dem Mord wurde sie aufgestockt – und vor allem fix ins Schulhaus geholt und nicht mehr nur bei Notfällen von aussen eingeschaltet. Die Schulsozialarbeiterin des «Engelwies» sitzt heute in jenem Büro, in dem Paul Spirig erschossen wurde. Nicht nur in St. Gallen, sondern im ganzen Land hat der Lehrermord der Schulsozialarbeit zum Durchbruch verholfen. Vor 1999 gab es sie einzig in der Stadt Basel, nachher wurde sie in fast allen Kantonen stark ausgebaut. «Eine Schule ohne Schulsozialarbeit könnte sich bei uns niemand mehr vorstellen», sagt Andy Prinzing.
Am 11. Januar 1999 nahmen die Behörden Besarta Gecaj in Obhut, seither ist sie zu ihrem Schutz abgetaucht. Mittlerweile 24-jährig und St. Galler Bürgerin, lebt Besarta Gecaj heute irgendwo in der Schweiz unter neuem Namen und neuer Identität und dürfte jeden Tag beten, nie ihrem zweiten Bruder zu begegnen, der ebenfalls hier lebt und nach dem Mord in den Medien erklärt hatte, seine Schwester sei eine Lügnerin und habe Schande über die Familie gebracht.
Mit den Jahren schien Besarta öffentlich in Vergessenheit zu geraten, bis ihr dritter Bruder im März 2008 im albanischen Fernsehen auftrat und in der Sendung «Vermisste Menschen» nach seiner Schwester suchen liess. Gefunden hat er sie nicht, sondern einzig eine neue Welle von Verschwörungstheorien auf albanischen Internetforen bewirkt. Das Misstrauen gegen die Schweizer Polizei bleibt offensichtlich gross. Selbst unter einzelnen albanischen Gerichtsdolmetschern in der Schweiz kursiert noch immer die Theorie vom gerechten Ehrenmord.
Andy Prinzing mag sich nicht mehr darüber aufregen. «Rasend» macht ihn jedoch, wenn er in der Schule wieder auf die alten Reaktionsmuster trifft und den Eindruck hat, dass Probleme verharmlost und unter dem Deckel gehalten werden. «Ich weiss, was es heisst, wenn Lehrkräfte wirklich an ihre Grenzen kommen. Und ich habe gelernt, dass man die Probleme auf den Tisch bringen und breit streuen muss, sonst passiert gar nichts. Denn niemand bei den Behörden hat ein Interesse, genau hinzuschauen, weil man auch eine Lösung bieten müsste, wenn man die Probleme wirklich erkannt hat.»
Täglich läuft der Schulleiter an der Eiche vorbei, die in Erinnerung an Paul Spirig auf dem Schulhof des «Engelwies» gepflanzt wurde. Er freut sich darüber, wie schön und stark der Baum seither gewachsen ist, und er ärgert sich ein bisschen, wenn wieder mal ein Schüler gedankenlos die kleine Messingtafel zerkratzt hat, die an den 11. Januar 1999 erinnert.
Es wird keine offizielle Andacht geben am 11. Januar 2009 und auch keine Reden. Nur das Licht wird gelöscht sein im Lehrerzimmer, wie immer an diesem Jahrestag, und stattdessen wird eine Kerze brennen.
«Ein Mord, der die Schule veränderte» - Schweiz: Standard - bazonline.ch