Schon wieder kein Völkermord?
Was sollen die begrifflichen Haarspaltereien in Anbetracht des fürchterlichen Leids der Bevölkerung Gazas? Warum es doch nicht zynisch ist, Akte der Gewalt klar zu definieren
In seinem Gastkommentar plädiert der Schriftsteller Richard Schuberth für einen sachlichen Gebrauch des Wortes Genozid.
Israel begeht keinen Genozid! – Wer dies heutzutage behauptet, kann sich des selbstgerechten Zorns aller Menschen sicher sein, die glauben, der Begriff bezeichne bei der moralischen Messung menschlicher Bestialität eine Art höchste Maßeinheit, die mit der Höhe der Opfer korreliert. Zwar gilt der Genozid im Völkerrecht zu Recht als "crime of crimes", doch lässt sich Empörung leichter messen (zum Beispiel per Blutdruckmessung) als die Verwerflichkeit der Tat. Dabei hilft es den unzähligen unglücklichen Zivilistinnen und Zivilisten, die in diesem Krieg ihr Leben verloren haben, rein gar nichts, wenn andere ihren Verstand verlieren.
Die definitorische Präzision des Begriffs Genozid muss auf jeden Fall gegen seinen Missbrauch als rein moralische Kategorie verteidigt werden, ansonsten verkommt er zu einem beliebigen Synonym für Kriegsgräuel. Man verteidigt damit zugleich die Grundlagen kritischen Denkens, das der sachlichen wie ethischen Beurteilung eines potenziellen Strafbestands zugrunde liegen muss.
Moralische Okkupation
Geprägt und ins Völkerrecht eingeführt wurde der Begriff von Raphael Lemkin im Jahr 1948. Ursprünglich wollte ihn der polnisch-jüdische Jurist nicht auf nationale, ethnische, "rassische" und konfessionelle Kollektive beschränkt wissen, sondern auf weitere gesellschaftliche Gruppen ausweiten. Das scheiterte am Widerstand etlicher UN-Mitglieder, die offensichtlich das Vorrecht bedroht sahen, ihre Oppositionen abzumurksen.
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"Keine Organisation erfüllt die Kriterien des planvollen Genozids deutlicher als die Hamas."
Doch abgesehen von den Deportationsfantasien unter israelischen Rechten finden Genozide in der israelischen Gesellschaft keine Mehrheiten und haben sie nie gefunden. Hingegen erfüllt keine Organisation die Kriterien des planvollen Genozids deutlicher als die Hamas. Die Hamas tötet nicht nur Israelis, weil sie Israelis sind, sie tötet Juden, weil sie Juden sind, sie tötet israelische Araber, Touristen, Gastarbeiter anderer Länder, weil sie als Komplizen des jüdischen Feindes aufgefasst werden. Die Hamas beging das Verbrechen des Genozids an den Israelis und zusätzlich des Massenmords an der Bevölkerung Gazas.
Was sollen die begrifflichen Haarspaltereien in Anbetracht des fürchterlichen Leids der Bevölkerung Gazas? Warum es doch nicht zynisch ist, Akte der Gewalt klar zu definieren
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