Die Bosniaken hatten gar keinen Nationalismus, weil sie kein Nationalbewusstsein hatten. Alija Izetbegovic war ja auch kein Nationalist und hat sich dagegen gestemmt, als ihm von Adil Zulfikarpasic und Muhamed Filipovic vorgeschlagen wurde, für die bosnischen Muslime den Namen Bosniaken einzuführen. Die SDA hat sich bei ihrer Gründung nicht als die Partei der Bosniaken definiert, sondern als Partei aller Muslime Jugoslawiens, wie einst die JMO von Mehmed Spaho. Dabei muss erwähnt werden, dass die JMO an erster Stelle die Interessen der ehemaligen muslimischen Großgrundbesitzer vertreten und sich gegen die Bodenreform aufgelehnt hat. Izetbegovic war so etwas wie ein gemäßigter Islamist, der sich für die nationale Frage nicht interessiert hat und diese sogar als antiislamisch betrachtete. Das sehen die Türken, Albaner, Iraner und andere mehrheitlich muslimische Völker offenbar anders.
Die "Islamska deklaracija" ist ein islamistisches Werk in dem Izetbegovics politische Philosophie deutlich zum Ausdruck kommt. Er lehnt Nationalismus und Nationalbewusstsein (also auch das Bosniakentum) ab und polemisiert gegen den Kommunismus. Wollte er einen islamischen Gottesstaat errichten? Das wird im Buch nicht direkt angedeutet. Was dort steht ist, dass eine islamische Regierung ohne islamische Gesellschaft nicht möglich ist und diese, wiederum, ohne eine muslimische Bevölkerungsmehrheit. Man kann daraus den folgenden Schluss ziehen: hier ist "islamische Regierung" synonym mit einer Theokratie, wobei sich die "islamische Gesellschaft" gegen den Säkularismus richtet. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn die Muslime die absolute Mehrheit bilden oder sich von Nichtmuslimen trennen. In einem religiös gemischten und säkularen Staat wie Bosnien-Herzegowina war die Bildungs einer solchen Staats- und Gesellschaftsordnung nicht möglich, es sei denn man teilt BiH. Die Muslime würden ihren Teil erhalten und Izetbegovic seinen alten Traum verwirklichen: zurück zum islamisch geprägten Feudalismus, in dem "noble" Familien (Izetbegovics Gefährte aus seiner Zeit bei den Jungen Muslimen, einem Ableger der Muslimbruderschaft) den Ton angeben. So ein "Staat" würde wahrscheinlich schnell zusammenbrechen, weil wirtschaftlich und politisch nicht überlebensfähig, mit der Folge, dass sie Muslime massenhaft auswandern bzw. flüchten und letzten Endes heimatlos bleiben würden.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde vonseiten der österreichisch-ungarischen Behörden der Versuch unternommen, eine interkonfessionelle bosniakische Nation zu schaffen. Das Hauptziel war wie Eindämmung der serbischen und kroatischen Nationalbewegungen, die, neben der ungarischen, tschechischen, polnischen usw., für die Monarchie immer mehr zur Bedrohung wurden. Eine bosniakische Nation sollte aber dem Kaiser treu bleiben. Dieses Bestreben scheiterte nicht zuletzt an den Muslimen selbst, die mit dem Bosniakentum als nationale Identität nichts anfangen konnten und sich selbst lieber nur als Muslime oder "Türken" betrachtet haben. Der Begriff Türke hatte hier keine ethnische Bedeutung. Als Türken wurden alle Muslime bezeichnet, egal welcher Herkunft, undzwar im Sinne der Anhänger der "türkischen Religion", also des Islam.
Da sich die k.u.k.-Behörden hauptsächlich auf die muslimischen Großgrundbesitzer (die Begs) stützten, musste das bosniakische Projekt endgültig scheitern. Die Idee fand nämlich nur unter einer kleinen Gruppe Begs Unterstützung, aber auch nur unter der Bedingung, dass die gesellschaftlich-ökonomischen Verhältnisse, wie sie im Osmanischen Reich existierten, weiterhin erhalten bleiben. Mit anderen Worten, Muslime und Christen solle alle Bosniaken werden, aber die Herren im Haus sind ausschließlich die muslimischen Feudalherren. Das wiederspricht der Idee der nationalen Emanzipation, in der alle Mitglieder einer Nation die gleichen, demokratischen Rechte besitzen. Die Christen in Bosnien hatten gehofft, dass sie mit der Ankunft der Österreicher endlich vom Joch dieser Begs befreit werden und, wie in fast ganz Europa, eine Bodenreform durchgeführt wird. Dazu ist es nicht gekommen, weil die Österreicher in den muslimischen Großgrundbesitzern ihre Hauptverbündeten sahen und ihre alten Privilegien nicht in Frage stellten, um sich ihre Loyalität zu sichern. Ist also klar, dass die Orthodoxen und Katholiken lieber Serben und Kroaten sein wollten. Die kroatische Nationalbewegung ging aus der illyrischen (südslawischen) hervor. Ihr erklärtes Ziel war es, alle Südslawen zu vereinen. Für sie waren alle Südslawen Brüder, egal wo sie lebten oder welcher Religion oder Gesellschaftsschicht sie angehörten. Diese mittel- und westeuropäischen Ideen wurden natürlich vom jungen kroatischen Bürgertum getragen. In Bosnien konnte eine Nationalbewegung gar nicht entstehen, weil dort überhaupt kein Bürgertum vorhanden war. Diese Ideen mussten also importiert werden.
Die meisten muslimischen Politiker und Intellektuelle während des ersten Jugoslawien haben sich entweder als Serben oder Kroaten deklariert. Manche auch als Jugoslawen, im Sinne des integralen Jugoslawismus. Auch Ivo Andric war so ein Jugoslawe. Im NDH-Staat wurden die Muslime dann einfach zu Kroaten erklärt und politische und kulturelle Ämter nur an jene verteilt, die sich schon vor dem Zweiten Weltkrieg zum Kroatentum bekannt haben. In Titos Jugoslawien hat man den Muslimen die Gelegenheit geboten, sich entweder als Serben, Kroaten oder Jugoslawen zu deklarieren. Dann kam die "unentschlossen"-Option hinzu und schließlich die Anerkennung der Muslime als eigene Volksgruppe. Daher kommt die sechste Fackel auf dem SFRJ-Wappen.
Die Idee des bratstvo i jedinstvo war unter den bosnischen Muslimen sehr einflussreich. Sie waren auch sehr säkular und allein schon deshalb waren die Ideen Izetbegovics (von den die meisten Muslime eigentlich keine Ahnung hatten) nicht realisierbar. Sie hatten kein Nationalbewusstsein oder betrachteten sich vor allem als Jugoslawen und Bosnier, waren kaum religiös und wurden trotzdem von den Gründern der Republika Srpska und Herceg Bosna vertrieben, ermordet, vergewaltigt, ausgeraubt und in KZs gesteckt. Wenn man den heutigen bosniakischen Nationalismus bzw. Chauvinismus verstehen will, muss man seine Ursachen hier suchen. Aber rechtfertigen kann man ihn gewiss nicht, weil er genau wie der serbische und kroatische Nationalismus letzten Endes zum Zerfall Bosniens führen wird.
Ich hoffe, ich konnte deine Frage endlich zufriedenstellend beantworten.