Die EZB ist nicht mal in der Lage ordentliche Inflationsprognosen für den Europäischen Raum aufzustellen. Dann solten sich die Europäer besser ganz von Prognosen über Russland zurückhalten
EZB entschuldigt sich für schlechte Inflationsprognosen
Von Martin Arnold
Financial Times
Die Europäische Zentralbank entschuldigt sich für ihre andauernde Unterschätzung der Inflation. Sie gibt den steigenden Energiepreisen, Engpässen in der Versorgungskette und einer schnelleren wirtschaftlichen Erholung von der Pandemie die Schuld für ihre zunehmend größeren Prognosefehler. Die EZB erklärt, dass sie von den „außergewöhnlichen“ Energiepreisen überrascht wurde, während die deutsche Inflation mittlerweile ein 40-Jahres-Hoch erreicht hat.
In einem am Donnerstag veröffentlichten Bericht erklärte die EZB, sie habe versucht, aus ihren Fehlern zu lernen und ihre Modelle entsprechend zu verbessern. Sie warnte jedoch auch davor, dass die Auswirkungen des russischen Einmarsches in die Ukraine und weitere Lockerungen der Corona-Beschränkungen bedeuteten, dass die Inflation „auf kurze Sicht sehr schwierig zu prognostizieren sein wird“.
Die Inflation ist im vergangenen Jahr durchweg schneller angestiegen als von der EZB vorhergesagt. Im März erreichte sie in der Eurozone einen Rekordwert von 7,4 Prozent. Selbst Mitglieder des EZB-Rats übten Kritik an der Unzulänglichkeit ihrer Prognosemodelle.
Die am Donnerstag veröffentlichten Daten zeigen, dass die Inflation in Deutschland im April auf ein neues 40-Jahres-Hoch von 7,8 Prozent gestiegen ist. Die Inflation in Spanien ist hingegen aufgrund niedrigerer Strom- und Kraftstoffpreise von ihrem 37-Jahres-Hoch zurückgegangen.
Bei ihrer Inflationsprognose im Dezember lag die EZB bisher am weitesten daneben. Für das erste Quartal dieses Jahres sagte sie einen Rückgang des Verbraucherpreisanstiegs in der Eurozone auf 4,1 Prozent voraus. Stattdessen schoss die Wachstumsrate auf 6,1 Prozent hoch, was die EZB dazu veranlasste, ihre Pläne zur Beendigung der Nettoanleihekäufe zu beschleunigen und den Weg für eine mögliche Zinserhöhung bereits im Juli zu ebnen.
Das Inflationsziel der EZB liegt bei zwei Prozent
Eurostat wird am Freitag seine Schnellschätzung der Inflationsrate in der Eurozone für den Monat April veröffentlichen. Diese wird wohl ungefähr auf Höhe des Rekordniveaus vom März bleiben. Luis de Guindos, Vizepräsident der EZB, sagte am Donnerstag, dass der Höhepunkt der Inflation in der Eurozone „bald erreicht“ sei. Er prognostizierte einen Rückgang in den letzten sechs Monaten dieses Jahres.
Die EZB begründete ihre schlechte Inflationsprognose vor allem mit „unerwarteten Entwicklungen bei den Energiepreisen in Verbindung mit den Auswirkungen des Endes der Corona-Beschränkungen und den Folgen der weltweiten Versorgungsengpässe“.
Die Großhandelspreise für Gas haben sich bis zum vierten Quartal des vergangenen Jahres mehr als versechsfacht, während die Großhandelspreise für Strom im gleichen Zeitraum fast um das Fünffache gestiegen sind. „Die Marktteilnehmer haben den außergewöhnlichen Anstieg der Energiepreise größtenteils nicht erwartet“, so die EZB. Sie fügte hinzu, dass ihre Annahmen „auf der Grundlage von marktbasierten Termingeschäften“ getroffen wurden.
Die Energiegroßhandelspreise haben die Verbrauchermärkte auch viel schneller beeinflusst als erwartet. „Bei Strom wurden die Großhandelspreise in einigen Ländern fast sofort an die Verbraucher weitergegeben. In der Vergangenheit dauerte dies meist drei bis zwölf Monate“, heißt es in dem Bericht.
Die EZB hatte die künftige Inflation viele Jahre lang meist überschätzt. In dem Bericht vom Donnerstag heißt es, die Unterschätzung des Preisanstiegs habe im ersten Quartal des vergangenen Jahres begonnen und sei „seit dem dritten Quartal 2021 deutlicher geworden“.
Die Zentralbank sagte aber auch, dass „internationale Institutionen und private Prognostiker in letzter Zeit ähnlich große Fehler gemacht haben“ und ihre Bilanz nicht schlechter sei als die der US-Notenbank Federal Reserve und der Bank of England. Die Fed beharrt seit November letzten Jahres nicht mehr darauf, dass die Inflation nur „vorübergehend“ sei. Im Gegensatz zur EZB haben die Fed und die Bank of England ihre Zinssätze als Reaktion auf den Preisdruck bereits angehoben.
Die EZB erklärte, dass „die jüngsten Entwicklungen eine detailliertere Bewertung des Energiemarktes erforderlich machen“. Zudem habe sie ihre Modelle aktualisiert, um gesonderte Annahmen für die Großhandelspreise für Gas und Strom einzubeziehen, um so deren jüngste Abkopplung vom Ölpreis zu berücksichtigen.
Die Inflationsrate in Deutschland lag im April bei 7,8 Prozent im Vergleich zu 7,6 Prozent im März. Dies geht aus einer am Donnerstag veröffentlichten Schätzung des Statistischen Bundesamtes hervor, die besagt, dass der Energiepreisanstieg von 39,5 Prozent im Vormonat auf 35,3 Prozent zurückgegangen ist.
Nach Schätzungen des spanischen Statistikamtes ist die Inflation in Spanien im April auf 8,3 Prozent gesunken. Im März betrug sie dagegen noch 9,8 Prozent, was der höchste Stand seit 1985 war. Die Kerninflation, bei der die Preise für Energie und verarbeitete Lebensmittel nicht berücksichtigt werden, stieg in Spanien jedoch weiter auf ein 27-Jahres-Hoch von 4,4 Prozent an.
Markus Gütschow, Ökonom bei Morgan Stanley, sagte, dass die EZB „eine gewisse Erleichterung verspüren dürfte“ angesichts der Anzeichen dafür, dass sich die Inflation ihrem Höhepunkt nähert. Das „könnte den Druck für eine Zinserhöhung bereits im Juli verringern. Doch die Tatsache, dass der Druck auf die Kerninflation weiter zunimmt, ist eindeutig ein beunruhigendes Zeichen für die Geldpolitiker“.
Von Martin ArnoldFinancial TimesÜbersetzung: Stefanie Konrad 29.04.2022
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