Leben in Angst in der Ukraine – Überleben im Bunker
Die materiellen Verwüstungen des Krieges in Odessa sind weithin sichtbar. Jene, die er in der Seele der Menschen anrichtet, bleiben hingegen oft im Verborgenen
Es ist einer der Momente, auf die man als Reporter insgeheim wartet – auch um den Preis, dass sie einen im Nachhinein mit zwiespältigen Gefühlen zurücklassen. Einer von den Momenten, die objektiv schauderhaft sind, ohne deren Miterleben eine Geschichte wie die folgende aber unvollständig wäre. Die junge Frau hat genau beschrieben, was passiert, wenn es losgeht: das Ritual, bei dem sich jeder einzelne Schritt wiederholt – mindestens einmal täglich, meistens aber mehrmals. Auch heute wieder, an einem trüben, wolkenverhangenen Frühlingsnachmittag, an dem das Regenwasser die Schlaglöcher des Frantzus'ky-Boulevard von Odessa füllt.
Da ist zuerst das Heulen der Sirenen. Dann der Griff zum Smartphone, auf dem die Telegram-Kanäle mit Infos über die Natur des neuesten Angriffs heißlaufen. Dann der Griff zum Schlüsselbund. Dann das Überwerfen der Jacke, das Anziehen der Schuhe – aber jene ohne Schnürsenkel, um keine Zeit zu verlieren. Das Aufreißen und Zuschmeißen der Wohnungstür. Die Sprünge über die Stufen, bis alle vier Stockwerke hinter ihr liegen. Draußen angekommen: der Sprint über den Hof und dann über die Straße. Der Griff in die Hosentasche und das Herausholen des elektronischen Schlüssels, ohne den sich das Tor nicht öffnen lässt, das unerwünschte Gäste vom Betreten des Geländes des gegenüberliegenden Wohnblocks abhalten soll. Nach dem Piepen, das das Tor beim Aufgehen endlich von sich gibt, ein weiterer Sprint von rund 30 Sekunden.
Die materiellen Verwüstungen des Krieges in Odessa sind weithin sichtbar. Jene, die er in der Seele der Menschen anrichtet, bleiben hingegen oft im Verborgenen
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