Experte zu Erdogans Problemen
Kann die Türkei im Kampf gegen IS nur verlieren?
ANKARA - Theoretisch darf Erdogans Armee in Syrien und den Irak einmarschieren. Dass sie das tatsächlich tun wird, bezweifelt Nahost-Experte Walter Posch. Und beantwortet weitere drängende Fragen.
Das türkische Parlament gab vorgestern grünes Licht für einen bewaffneten Kampf gegen die Terroristen des IS. Ein Jahr lang gilt das Mandat - doch wird Erdogan die Möglichkeit überhaupt nutzen? Blick.ch beantwortet die vier wichtigsten Fragen zur Rolle der Türkei im Kampf gegen die sunnitische Terrormiliz.
1. Was wird der türkische Präsident Erdogan nun tun?
Nahost-Experten sind sich einig. Mit einem sofortigen Einmarsch der türkischen Armee in Syrien ist nicht zu rechnen. «Erdogan wird der Anti-IS-Allianz höchstens die Benutzung der türkischen Militärbasen und Luftwaffenstützpunkte erlauben», sagt Walter Posch vom Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Einen Einsatz der Bodentruppen schliesst er aus. «Denn das martiale Gehabe mit Panzern entlang der Grenze ist eine Sache – wirklich zu kämpfen aber ist etwas ganz anderes.»
Ausserdem spreche die Vergangenheit gegen einen Militäreinsatz. «Wenn die Türkei in den letzten 20 Jahren über die Landesgrenze ging, war das nie ein militärischer Erfolg», sagt Posch. Kommt dazu, dass der Gegner dieses Mal besonders unberechenbar und äusserst schlagkräftig wäre.
2. Eine Beteiligung der Türkei an der internationalen Allianz gegen IS wurde schon lange gefordert. Warum hat die Türkei so lange gezögert?
- Bis Mitte September befanden sich 49 türkische Geiseln in der Gewalt des IS. Bis zu diesem Zeitpunkt schob Erdogan eine mögliche Gefährdung dieser Personen vor, um ein Nicht-Eingreifen in Syrien und dem Irak zu rechtfertigen. Seit dem 20. September allerdings sind die Geiseln frei.
- Der syrische Diktator Baschar al-Assad ist ein Feind Erdogans. Das Ziel des türkischen Präsidenten: der Sturz des syrischen Regimes. Deshalb unterstützte er jahrelang indirekt die Rebellen. Zu Hunderten reisten sie in die Türkei ein und schleusten sich dann über die Grenze nach Syrien. Ausserdem wurden verwundete Dschihadisten in türkischen Spitälern behandelt.
- Das grösste Problem allerdings stellt das Verhältnis zu den Kurden dar. Die drei kurdischen Enklaven im Norden Syriens werden von Volksschutzeinheiten kontrolliert, die der kurdischen Arbeiterpartei PKK nahestehen. Diese gilt in der Türkei, der EU und den USA als Terrororganisation.
Das Dilemma: Schwächt die Türkei den IS, bringt sie gleichzeitig also die PKK zum Erstarken – und damit die Autonomiebestrebungen der kurdischen Regionen. Ein selbstständiger kurdischer Staat ist Erdogans Alptraum, denn er könnte die kurdische Bevölkerung in der Türkei – rund ein Fünftel der Bevölkerung – in ihren Separatismusbestrebungen bestreben.
- Abgesehen davon stellt der IS auch ganz direkt eine Gefahr dar. Hunderte IS-Kämpfer stammen aus der Türkei. Bekämpft das Land den IS, könnte dieser zurückschlagen. Zum Beispiel, indem türkische Dschihadisten aus Syrien und dem zurückkehren und Anschläge auf Ballungszentren wie Istanbul verüben.
3. Warum hat das Parlament nun dennoch die Erlaubnis für ein militärisches Eingreifen gegeben?
«Der IS beginnt für die Türkei jetzt zum Image-Problem zu werden», sagt Nahost-Experte Posch. «Die Anschuldigungen, dass die Türkei mit einer Mörderbande wie dem IS sehr mild umgegangen ist, schaden jetzt.» Zu Beginn sei das noch kein so grosses Problem gewesen. Nun wuchs der internationale Druck jedoch stark. Ausserdem würde die Terrormiliz auch innenpolitisch zum Problem: «Auch wenn die türkischen Medien nur wenig über die Gräueltaten des IS berichten, beginnen sich die Gegensätze im Land zu verschärfen», erklärt Posch.
Auch machte die PKK Druck. Die Organisation beschuldigt Erdogan, die IS-Dschihadisten zu unterstützen, indem ein Anschluss an die internationale Koalition verzögert und kurdische Kämpfer nicht über die Grenze nach Syrien gelassen worden seien.
4. Und was wollen eigentlich die syrischen Kurden?
Sollte die Türkei wider Erwarten Bodentruppen nach Syrien entsenden, käme laut Posch nur ein Zweifrontenkrieg in Frage – gegen die PKK und den IS. Die Kurden der nordsyrischen Enklaven sind deshalb klar gegen ein militärisches Eingreifen der Türkei. Denn das käme ihrer Ansicht nach einer Besatzung gleich, die das Ziel der Zerschlagung ihrer Autonomiebestrebungen zum Ziel hätte.
Laut Nahost-Experte Posch wird die Türkei nun wohl erst mal abwarten. Denn unter Umständen könnte sich alles nach seinen Vorstellungen entwickeln – «ohne dass Erdogan einen Finger krümmen muss», meint er und erklärt: «Sollte der Widerstand der kurdischen Verteidigung durch den IS gebrochen werden, könnte Erdogan unter dem Deckmantel einer Friedensmission alle kurdischen Kämpfer entwaffnen.»
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