[h=1]Eine «Generation von Psychopathen» in Mexiko?[/h] [h=3]von K. Leuthold - Fünf Kinder ermorden einen Sechsjährigen auf brutalste Art. Der Soziologe Fernando Aguilar Avilés erklärt, was die kaltblütige Tat speziell mit Mexiko und seiner Gesellschaft zu tun hat.[/h]
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Das Verbrechen zeige den «sozialen Verfall», sagte die Staatsanwaltschaft. Die fünf Kinder - zwei Mädchen und drei Knaben im Alter zwischen 11 und 15 Jahren- seien «Opfer einer extrem gewalttätigen Umwelt», meinte Martín Pérez von einer Nichtregierungsorganisation für Kinderrechte.
Bild: Daniel Acosta
Der sechsjährige Christopher Marquez Mora wurde in der mexikanischen Stadt Chihuahua von Nachbarskindern entführt und zu Tode gequält. Die Leiche steckten sie in einen Plastiksack und verscharrten sie in einem Erdloch. Danach gingen sie nach Hause. Erst nachdem die Polizei Christophers Leiche entdeckte, gestand einer der Täter seiner Mutter die Tat. Diese meldete sich dann bei den Behörden. Das Verbrechen zeige den «sozialen Verfall», sagte die Staatsanwaltschaft. Die fünf Kinder - zwei Mädchen und drei Knaben im Alter zwischen 11 und 15 Jahren- seien «Opfer einer extrem gewalttätigen Umwelt», meinte Martín Pérez von einer Nichtregierungsorganisation für Kinderrechte. Die organisierte Kriminalität und eine mangelnde Herrschaft des Rechts seien sehr präsent. «Die Kinder widerspiegeln, was sie täglich erleben.» Der Forensiker Carlos Ochoa sagte, Fälle wie der Mord an dem Sechsjährigen markierten den «Beginn einer Generation von Psychopathen, die immer jünger werden».
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Fünf Kinder — zwei Mädchen und drei Jungen — im Alter zwischen elf und 15 Jahren
entführen den sechsjährigen Christopher Márquez Mora aus einem Armenviertel im nordmexikanischen Chichuahua. Die Kinder kennen sich und bringen den Kleinen zu einer abgelegenen Stelle. Dort foltern sie Christopher zu Tode. Sie reissen ihm die Augen aus, schneiden ihm ein Teil des Gesichts ab und stechen 27 Mal auf den Jungen ein. Dann verscharren sie die Leiche und gehen nach Hause.
Der mexikanische Soziologe Fernando Aguilar Avilés erklärt 20 Minuten, was die kaltblütige Tat speziell mit Mexiko und seiner Gesellschaft zu tun hat. (Bild zvg.) Für den zuständigen Forensiker Carlos Ochoa markiert der Fall «den Beginn einer Generation von Psychopathen, die immer jünger werden». Der Soziologe Fernando Aguilar Avilés, Professor an der Universität Mexiko, erklärt 20 Minuten, was diese kaltblütige Tat speziell mit dem Land und seiner Gesellschaft zu tun hat.
Was dachten Sie als erstes, als Sie vom Fall Christopher hörten?
Es ist erschreckend zuzusehen, wie die Kinder die Realität der Erwachsenen in ihren Spielen nachahmen. Sie kopieren die Gewalt des im Land herrschenden Drogenkriegs. Das Schlimmste ist aber, dass sie mit der Distanz aufwachsen, mit der das Thema in den Medien und der Gesellschaft behandelt wird.
Was meinen Sie damit?
Die Medien berichten rund um die Uhr über Tote, grausame Verbrechen und Massengräber, aber in keinem Moment stellen sie die Opfer in den Vordergrund. Die Nachrichten verbreiten Fakten, aber nie einen Namen oder eine Familiengeschichte hinter den schrecklichen Verbrechen. Das führt dazu, dass die mexikanische Gesellschaft die Horror-Geschichten heutzutage als alltäglich und normal betrachtet.
Hat Mexiko es wirklich mit einer «Generation von Kinder-Psychopathen» zu tun?
Der Begriff ist eine feine Art und Weise der Medien und der Behörden, sich den wahren Problemen des Landes nicht zu stellen. Sie geben dem Phänomen jetzt einen Titel, aber fragen sich nicht, welche Verantwortung die Gesellschaft trägt.
Was ist faul in der mexikanischen Gesellschaft?
In Mexiko leben sechs von zehn Jugendlichen in Armut. Sie sind vom Gesellschaftsleben ausgeschlossen. Sie haben keine Chance auf eine Ausbildung oder auf eine gute Arbeitsstelle. Im Grunde haben sie keine Zukunft. Aber die Behörden wollen nicht einsehen, dass Jugendliche sich den Drogenbanden anschliessen, weil sie dort einen Lohn und Anerkennung bekommen. Lieber stigmatisieren sie diese jungen Menschen und stellen sie als Problem dar, obwohl eigentlich das Problem woanders liegt, nämlich bei den staatlichen Institutionen, welche die Jungen komplett im Stich lassen.
Was passiert mit den Kindern aus Chihuahua? Erhalten sie noch eine Chance?
Nein, so wie die Behörden den Fall angehen nicht. Sie stecken jetzt die beiden 15-Jährigen in eine Jugendanstalt und meinen, damit das Richtige zu tun. Dabei weiss man aus Erfahrung, dass junge Kriminelle im Gefängnis in den meisten Fällen nicht resozialisiert werden.
Was würden Sie vorschlagen, wie man diese Kinder behandelt?
Wir müssen die Gewalt wieder greifbar machen. Eine gute Therapie wäre, die Kinder mit der Mutter des Opfers zu konfrontieren. Sie sollen sehen, wie viel Schmerz sie verursacht haben. Doch für die Behörden ist es einfacher, sie vor einem Gericht zu stellen und zu verurteilen. Fall abgeschlossen.
Das ist nicht das einzige. Auch mit dem Umfeld, in der die Familien lebt, müsste man arbeiten. Die Familien aus Chihuahua mussten ihr Quartier verlassen, weil sie jetzt von den Nachbarn nicht mehr akzeptiert werden. Und selbst die Kinder, werden sie dann einmal aus der Anstalt entlassen, können nicht mehr an den alten Ort zurückkehren. Das müssten wir ändern. So geht man dem Problem einfach aus dem Weg.
Wohin entwickelt sich Mexiko?
Ich bin pessimistisch. Die Regierung will die sozialen Probleme nicht wirklich lösen. Ein Beispiel: Als die Studenten in Iguala verschwanden, hat die Polizei begonnen, nach den Vermissten zu suchen und nach ihren Leichen zu graben. Diese Toten fand man nie – dafür jede Menge Massengräber mit anderen Opfern. Statt weiterzugraben, haben sie die Ausgrabungen angehalten – ganz im Sinne «bloss nicht weiterbuddeln, sonst finden wir noch mehr». Aber man sollte diese Toten ausgraben. Im buchstäblichen, aber auch im symbolischen Sinn.
Wie also löst man Mexikos Gewaltprobleme?
Mit Prävention und Bildung. Man muss die Kinder auffangen, bevor sie in den Händen der Drogenbanden landen. Die Regierung gibt Geld an Organisationen, die den Kindern helfen, aus den Drogenmafias auszusteigen. Dann ist es aber bereits zu spät. Wenn ein Jugendlicher mit elf Jahren von den Drogenbanden aufgenommen wird, dann sollten wir vermeiden, dass auch der kleine Bruder nachrückt.