Gegenstand der von den Vertriebenenverbänden im allgemeinen und von der Sudetendeutschen Landsmannschaft im besonderen initiierten und mitgetragenen Debatten ist immer eine Auseinandersetzung mit den Folgen von Flucht und Vertreibung der deutschen Minderheiten aus Osteuropa infolge des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs.
Problematisch an dem Verhalten der Landsmannschaften in diesen Debatten ist dabei nicht, den Gegenstand Flucht und Vertreibung als solchen zu thematisieren und sich um eine adäquate Einordnung und Interpretation zu bemühen. Zu kritisieren ist vielmehr die Art und Weise, in der diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geschieht. Hier ist der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer zuzustimmen, wenn sie sagt, dass eine politische Organisierung entlang des Themas »Vertreibung« zu verstehen sei als das Interesse an der Wachhaltung des Erfahrenen – allerdings »nicht im Sinne des Mitleids, sondern im Sinne einer offenen Rechnung«. (7)
Denn es geht in dem maßgeblich von den Vertriebenenverbänden initiierten neuen deutschen Opferdiskurs gerade nicht um die Auseinandersetzung mit dem individuellen Schicksal und Leid der betroffenen Menschen, sondern um den Versuch einer Interpretation von Flucht und Vertreibung als kollektiv zu sanktionierendes Unrecht. Dabei steht nicht die Aufklärung über die Vergangenheit im Zentrum, sondern das Bestreben nach Schaffung und Formung einer kollektiven Opferidentität: »Die Deutung der Vergangenheit wird dabei nicht nur zum Streitfall, sondern sie kann auch, national wie international, zum Ziel politischer Einflussnahme werden – sei es, um bestimmte Inhalte kollektiver Identität zu beeinflussen, sei es, um politische Gegner mit historischen Argumenten zu bekämpfen, sei es, um in den internationalen Interessenkonflikten Ansprüche historisch zu rechtfertigen.«
Durch die Kollektivierung der individuellen Geschichte soll der historische Kontext revidiert werden. Einerseits werden so die Ursachen von Flucht und Umsiedlung negiert, andererseits wird zugleich die Legitimität der Folgen in Frage gestellt. Denn die Delegitimation der antifaschistischen Neuordnung Europas nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus durch die Alliierten wird erst durch die Zerlegung der Geschichte in scheinbar unzusammenhängende Zufälle möglich;
erst wenn Flucht, Vertreibung und Umsiedlung der Deutschen nicht mehr im Kontext des Nationalsozialismus betrachtet werden, besteht die Möglichkeit der moralischen Entlastung und der Forderung nach der kollektiven Sanktionierung der Vertreibung als Unrecht.
Quelle:
jungle-world.com - Archiv - 39/2008 - Dossier - Die deutsche Annexion der Tschechoslowakei vor 70 Jahren und die Vertriebenen-Debatte