In der Theorie mag der russische Impfstoff gut wirken und verträglich sein – doch was in der Praxis nach Europa geliefert wird, steht in den Sternen.
In einer idealen Welt könnten wir uns die nun folgenden Zeilen sparen. Dort wäre nämlich die Frage, mit welchen Mitteln sich eine Pandemie am effektivsten bekämpfen lässt, eine rein wissenschaftliche und somit klar zu beantworten. Die Verantwortlichen würden aus dem Portfolio der zur Verfügung stehenden Vakzine jene wählen, die am besten wirken, die wenigsten Nebenwirkungen aufweisen und am schnellsten verabreicht werden können – sine ira et studio und im Vertrauen darauf, dass die Lieferanten der Impfstoffe nach bestem Wissen und Gewissen arbeiten, alle Standards einhalten und auch sonst nichts im Schilde führen.
Doch leider entspricht unsere real existierende Welt nicht diesem platonischen Ideal, sondern vielmehr Kants Diktum, wonach aus dem krummen Holz der menschlichen Natur nichts Gerades geschnitzt werden könne. Womit wir bei dem Gerangel um den russischen Impfstoff Sputnik V angelangt wären, das immer abstrusere Züge annimmt. Während die Slowaken ernste Zweifel daran haben, dass der Impfstoff, den sie aus Russland geliefert bekommen haben, auch tatsächlich jenem Impfstoff entspricht, den sie in Moskau geordert haben, müssen Experten der EU-Arzneimittelagentur EMA mit ihrer geplanten Inspektion der Produktionsanlagen in Russland warten. Der Grund? Nach Auskunft Moskaus ist der Andrang der Interessenten so groß, dass man die EMA-Delegation selbst beim allerbesten Willen – der ja in den Beziehungen zwischen Russland und der EU selbstverständlich vorauszusetzen ist – nicht unterbringen könne. Fast wirkt es so, als ob die Sputnik-Show, mit der Russlands Staatschef, Wladimir Putin, durch ganz Europa touren möchte, wegen allzu großen Erfolgs abgesagt werden müsste.
An dieser Stelle ist es angebracht, einen dicken Trennstrich zwischen Wissenschaft und Politik zu ziehen. Dass die russischen Chemiker Weltklasse sind, muss nicht extra erwähnt werden – ihren Erfindungsgeist haben sie in der Vergangenheit immer wieder unter Beweis gestellt. Insofern ist davon auszugehen, dass Sputnik V in seiner idealen Version ein effektiver und gut verträglicher Impfstoff gegen Corona ist.
Das Problem ist nur, dass wir nicht wissen, welche Mengen dieses idealen Impfstoffs tatsächlich hergestellt und geliefert werden können. Die jüngsten Berichte aus der Slowakei stimmen diesbezüglich nicht sonderlich zuversichtlich. Hinzu kommt, dass in Russland nicht nur guter Impfstoff Mangelware ist, sondern auch das Vertrauen in den Staatsapparat. Als es 2014 während der Olympischen Spiele in Sotschi um die vergleichsweise triviale Angelegenheit des Nationalstolzes ging, setzte der Kreml seinen militärisch-industriellen Komplex in Gang, um zu verschleiern, dass russische Athleten mit Dopingmitteln vollgepumpt worden waren, bevor sie sich ihre Medaillen abholten. Im Kampf gegen die Pandemie sind die Einsätze höher.
Ließe sich das Dilemma umgehen, indem man die Impfung in Europa produziert? Ja – nur wozu? Sputnik soll bekanntlich den Lieferengpass im laufenden Quartal lindern, und nicht erst nach dem Sommer. Dass die EU langfristig auf anpassungsfähigere mRNA-Impfstoffe setzen wird, liegt auf der Hand. Allein die neue Biontech-Fabrik in Marburg kann eine dreiviertel Milliarde Impfdosen produzieren – mehr als genug, um alle EU-Bürger mit der jährlichen Auffrischungsimpfung zu versorgen. In ihrem Bemühen um einen EU-Landeplatz für Sputnik V wirken dessen europäische Befürworter so, als ob sie händeringend nach einem Problem für ihre Lösung Ausschau halten würden.
All das sollte den Entscheidungsträgern in Wien zu denken geben. Ihre Suche nach einem Corona-Lückenfüller droht nämlich in einer Sackgasse zu enden. Und je lauter am Ballhausplatz nach Sputnik gerufen wird, desto mehr Fragen kommen selbst bei wohlgesonnenen Beobachtern auf. Zum Beispiel diese hier: Wie will der Bundeskanzler gewährleisten, dass mit den Lieferungen aus Moskau alles stimmt, wenn er nach eigener Auskunft nicht imstande war, zu überblicken, welchen Impfstoff seine Beamten in Brüssel geordert haben?
In der Theorie mag der russische Impfstoff gut wirken und verträglich sein – doch was in der Praxis nach Europa geliefert wird, steht in den Sternen.
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